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Zeittafel zu Leben und Werk

Leo N. Tolstoi 1828-1910

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Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula).

Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane „Krieg und Frieden“ (1862-1869) und „Anna Karenina“ (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum „Hauptmotiv“ des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten, aber auch dichterische Werke wie der Roman „Auferstehung“ (abgeschlossen 1899) markieren die Abkehr von jenem orthodoxen Kirchentum, das wesentlich auf einem Pakt mit der Macht gründet (Exkommunikation 1901).

Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu wiederentdeckte „Lehre vom Nichtwiderstreben“ ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstest für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren in Tolstois Augen die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie („Alle Wesen sind untrennbar mit einander verbunden.“ – „Die Erkenntnis der Einheit aller Menschen findet immer mehr Verbreitung in der Menschheit.“)

Tolstoi hielt unbeirrbar am Ideal von Aufklärung und neuzeitlichem Freiheitsringen fest. Er durchschaute jedoch den abgründigen Gewaltschatten der bürgerlichen Revolution (samt missionarischer Militärreligion) und die ideologischen Funktionen von Wissenschaftsgläubigkeit (frühe „Positivismuskritik“).

Seiner Hinwendung zur Welt der Armen entspricht ein Eigentumsbegriff im Sinne der frühen Kirche (Kritik des Herrschaftssystems der reichen Minderheit, kompromisslose Ablehnung von Ausbeutung und Machtakkumulation durch Bodenbesitz oder Kapitalismus). Zuletzt gab es durchaus Sympathien für den Sozialismus, doch Leo N. Tolstoi erkannte dabei hellsichtig wie sonst keiner die Gefahr einer autoritären und gewalttätigen Perversion.

Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen „Kunsttheorie“ und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: „Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.“

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Annäherungen an Tolstoi, wie sie auch dieses Editionsprojekt befördern möchte, können nur als offener Studienweg gelingen und dürfen Widersprüche (Biographie, Weltanschauung, Werk) nicht übergehen. Die textkritische russische Gesamtausgabe umfasst mehr als 90 Bände; das riesige Kontingent der deutschen (Mehrfach-)Übersetzungen vermittelt nur einen Ausschnitt. Die Literatur über den schon zu Lebzeiten weltweit gelesenen Tolstoi ist nahezu unübersehbar. (Tolstoi ebnete den Weg zu einer globalen Leserschaft u. a. durch die Nutzung moderner Medienformate und Vertriebsmöglichkeiten sowie einen bahnbrechenden Copyright-Verzicht. So konnte er auch die Folgen der Zensur abschwächen. Staatliche Repressionen der schlimmsten Art trafen die Leser*innen, nicht den wegen seines literarischen Weltrangs und einer großen Anhängerschaft geschützten „Meister“.)

pb