Zum Inhalt springen

Lass den Funken nicht zum Großbrand werden

Упустишь огонь – не потушишь ǀ Upustisch ogon – ne potuschisch
Ein Gleichnis wider die Eskalationsspirale der Gewalt, 1885

Es gibt nicht wenige Parabeln auf den Krieg, die eine eskalierende Nachbarschaftsfehde zum Gegenstand haben. Eine frühe Version stammt vom russischen Dichter Leo N. Tolstoi (1828-1910): „Lösche das Feuer, solange es glimmt!“

Lösche das Feuer, solange es glimmt

Im Dorfe wohnte der Bauer Iwan Stscherbakow. Es ging ihm gut; er war bei voller Kraft, der tüchtigste Arbeiter im ganzen Dorfe. Drei gesunde Söhne standen ihm zur Seite; einer hatte schon eine Frau, der zweite war heiratsfähig, der dritte, noch halberwachsen, wußte mit den Pferden umzugehen und pflügte bereits. Iwans Alte war eine vernünftige und wirtschaftliche Frau; ruhig und fleißig war seine Schwiegertochter. Iwan konnte sehr behaglich leben mit seiner Familie. Nichtarbeitende Esser gab es nicht im Hause außer dem alten, kranken Vater – der lag schon das siebente Jahr mit Atemnot auf dem Ofen. Alles hatte Iwan reichlich – drei Pferde mit einem Füllen, eine Kuh mit ihrem Kalbe, fünfzehn Schafe. Die Weiber machten Schuhe und Kleider für die Männer und arbeiteten auf dem Felde; die Männer verrichteten ihre bäuerliche Arbeit. Das Korn reichte bei ihnen immer bis über die neue Ernte hinaus. Mit ihrem Hafer bezahlten sie Steuern und alles Notwendige. Iwan konnte sehr behaglich leben mit seinen Kindern. Aber Hof an Hof mit ihm lebte sein Nachbar, Gawrilo der Lahme, Gordej Iwanows Sohn. Und zwischen diesem und Iwan brach Feindschaft aus.

Solange der alte Gordej lebte und Iwans Vater noch mittat in der Wirtschaft, lebten die Bauern als gute Nachbarn. Brauchten mal die Weiber ein Sieb oder einen Kübel, fehlte den Männern eine Planke oder ein Rad, um rasch auszuwechseln, dann schickten sie ins Nebenhaus und halfen einander gut nachbarlich aus. Oder verlief sich mal ein Kalb auf die Tenne, dann jagten sie es eben weg und sagten nur: „Laßt euer Kalb nicht so herumlaufen, bei uns liegt noch alles vom Dreschen da.“ Aber es war nicht etwa Brauch bei ihnen, es zu verstecken und auf der Tenne einzusperren, oder gar Redereien gegeneinander zu machen.

So lebten sie damals, als die beiden Alten noch mitmachten. Aber als dann die Jungen wirtschafteten, wurde es anders.

Mit einer rechten Kleinigkeit fing alles an.

Eine Henne von Iwans Schwiegertochter hatte zeitig angefangen zu legen. Die junge Frau sammelte die Eier für die Osterwoche. Jeden Tag holte sie sich ihr Ei aus dem Kasten der Telege im Schuppen. Einmal hatten wohl die Kinder die Henne scheu gemacht: sie flog also über den Zaun zum Nachbar und legte dort ihr Ei. Die junge Frau hört die Henne gackern und denkt: ‚Jetzt habe ich keine Zeit, ich muß erst in der Stube zu den Feiertagen Ordnung schaffen; später werde ich mir mein Ei schon holen.‘ Am Abend geht sie in den Schuppen und schaut in den Kasten der Telege – kein Ei ist da! Sie fragt also die Schwiegermutter, den Schwager, ob die es vielleicht genommen haben. „Nein,“ antworten die, „wir haben es nicht genommen.“ Da sagt Taraska, der jüngste Schwager: „Deine Henne hat drüben beim Nachbar gelegt, da hat sie gegackert; von da ist sie auch wieder zurückgeflogen gekommen.“ Die junge Frau schaut sich ihre Henne an: die sitzt neben dem Hahn auf ihrer Stange, die Augen schon fast geschlossen, sie will gerade einschlafen. Am liebsten hätte sie ihre Henne gefragt, wo sie gelegt habe, – aber die kann ja doch nicht antworten. Also ging die Frau zu den Nachbarn. Die Alte tritt ihr da entgegen:

„Nun, junge Frau, was möchtest du?“

„Ach, Großmütterchen,“ sagt sie, „meine Henne ist heute zu euch hinübergeflogen. Hat sie etwa bei euch irgendwo ein Ei gelegt?“

„Ich habe nichts gesehen. Unsere eigenen legen ja schon lange, Gott sei’s gedankt! Wir haben unsere eigenen Eier eingesammelt; fremde haben wir nicht nötig. Nein, Mädel, wir gehen nicht auf fremde Höfe nach Eiern.“

Die junge Frau ärgerte sich über diese Reden, sie sagte auch ein paar überflüssige Worte, die Nachbarin gab noch zwei drauf, – und schon fingen die Weiber an zu keifen. Gerade ging Iwans Frau mit Wasser vorüber und mischte sich auch gleich ein. Dann kam noch Gawrilos Weib gerannt, machte die Nachbarin herunter, schwatzte von längst vergangenen Dingen und brachte allerhand vor, was überhaupt nie gewesen war. So war der Krakehl fertig. Alle schreien sie durcheinander, jede bringt zwei Worte auf einmal heraus. Und schlimme Worte fallen. „Das bist du … Und du bist das … Und du bist eine Diebin … Und du bist eine Schlampe … Und du läßt deinen alten Schwiegervater Hungers sterben … Und du bist liederlich …“

„Du … du Bettelweib, mein Sieb hast du entzweigemacht! Du hast überhaupt immer noch unsere Trage! Gib unsere Trage heraus!“

Sie zerrten an der Trage, verschütteten das Wasser, rissen sich die Tücher herunter, fingen an, sich zu prügeln. Da kam gerade Gawrilo vom Felde her vorbei und trat für sein Weib ein. Iwan mit seinem Sohn kam angerannt, und alle mengen sich zu einem Knäu­el. Iwan war ein kräftiger Kerl und schleuderte alle beiseite. Dem Gawrilo riß er ein Büschel Haare aus dem Bart. Die Leute liefen zusammen und brachten sie mit Mühe auseinander.

Damit fing es also an.

Gawrilo wickelte seine ausgerissenen Haare in ein Papier und fuhr aufs Bezirksamt, um zu klagen.

„Ich habe ihn mir doch nicht dafür wachsen lassen, den Bart, daß der lausige Wanka ihn mir ausreißt!“

Und seine Frau führt dauernd große Reden vor den Nachbarn; jetzt würden sie Iwan vor Gericht alles heimzahlen, nach Sibirien würden sie ihn bringen. So war die Feindschaft da.

Vom ersten Tage an redete der Alte vom Ofen her gut zu. Er sagte zu ihnen:

„Das sind doch alles Dummheiten, Kinder, was ihr da macht, und wegen solcher Dummheiten fangt ihr eine große Sache an! Bedenkt doch, die ganze Geschichte geht eigentlich nur um ein Ei! Die Kinder haben ein Ei weggenommen – nun, in Gottes Namen! Was will das sagen, ein Ei! Der liebe Gott hat Eier genug für alle! Nun schön, einer hat ein böses Wort gesagt, also mach’ es wieder gut, sage, wie man besser spricht. Schön, ihr habt euch geprügelt, ihr Sünder. Das kommt vor. Also geht hin, bittet einander ab, und die Sache ist erledigt. Wenn ihr aber was Böses daraus machen wollt, dann wird es euch selbst auch schlimm ergehen.“

Aber die Jungen hörten nicht auf den Alten; sie meinten, das wäre alles nur so Gerede, nur greisenhaftes Geschwätz.

Iwan gab sein Unrecht vor dem Nachbar nicht zu.

„Ich habe ihm nicht den Bart ausgerissen,“ sagte er, „er hat ihn sich selbst ausgerissen. Aber sein Sohn hat mir vorn das Hemd zerfetzt, das ganze Hemd hat er mir zerrissen. Da ist es!“

Und Iwan fuhr hin und klagte. Sie klagten sich also beim Friedensrichter und im Bezirksamt. Unterdessen ging einmal bei Gawrilo ein Bolzen von der Telege verloren. Gleich beschuldigten Gawrilos Weiber Iwans Sohn wegen dieses Bolzens.

„Wir haben gesehen,“ sagen sie, „wie er in der Nacht am Fenster vorbeikam und nach der Telege ging; die Gevatterin hat auch gesagt, er sei in der Schenke gewesen, da habe er dem Wirt den Bolzen aufreden wollen.“

Wieder wurde geklagt. Zu Hause aber gab es jeden einzigen Tag Schimpfreden und Prügelei. Auch die Kinder schimpfen sich schon, sie lernen es ja so von den Großen; und wenn die Weiber sich am Fluß treffen, schwingen sie weniger ihre Waschbleuel, als daß ihre Zungen schnattern – und alles nur zum Bösen.

Anfangs machten die Männer nur üble Nachrede voneinander. Bald aber fingen sie wirklich an, alles, was nicht angebunden war, zu stehlen. Auch die Weiber und die Kinder leiteten sie dazu an. Und ihr Leben wurde immer schlimmer und schlimmer. Iwan Stscherbakow und Gawrilo klagten sich in der Gemeinde und im Bezirksamt und beim Friedensrichter, und den Richtern war die ganze Geschichte schließlich schon langweilig. Einmal halst Gawrilo dem Iwan eine Geldstrafe auf oder bringt ihn ins Loch, dann tut Iwan dem Gawrilo dasselbe an. Und je mehr sie einander Unannehmlichkeiten bereiten, desto verbitterter werden sie. So wie wenn Hunde aneinander geraten: je länger sie sich balgen, desto wütender werden sie. Wenn dann jemand dem einen Hund von hinten eins überzieht, so denkt der, der andere habe ihn gebissen, und wird nur noch toller. Genau so war es mit diesen Bauern: sie rennen mit ihren Klagen hin, – der eine oder der andere bekommt eine Geldstrafe oder Haft, und das Ergebnis ist nur, daß die gegenseitige Wut immer größer wird. „Warte nur, ich werde dir das schon alles heimzahlen!“ Und so zog sich der Zustand sechs Jahre lang hin bei ihnen. Der Alte auf seinem Ofen predigte immer dasselbe. Immer wieder versuchte er ihnen ins Gewissen zu reden:

„Was tut ihr da nur, Kinder! Laßt doch endlich alles, was ihr gegeneinander habt; denkt an Wichtigeres und erbost euch nicht unnütz gegen andere Menschen. Es ist wirklich besser! Je mehr ihr euch erbost, desto schlimmer wird es nur!“

Sie hörten nicht auf den Alten.

Im siebenten Jahre war der Zank schon so weit, daß auf einer Hochzeit Iwans Schwiegertochter vor allen Leuten den Gawrilo schmähte und von ihm behauptete, er sei beim Pferdediebstahl ertappt worden. Gawrilo war betrunken und konnte seinen Zorn nicht meistern; er schlug die Frau und verletzte sie so, daß sie eine ganze Woche liegen mußte. Sie war aber gerade schwanger. Da freute sich Iwan und fuhr sofort mit einer Klage zum Untersuchungsrichter. ‚Jetzt‘, denkt er, ,bin ich den Nachbar los. Sicher muß er nun ins Gefängnis oder nach Sibirien.‘ Aber es kam wieder nicht so wie Iwan wollte. Die Klage wurde nicht angenommen. Die Frau wurde untersucht : sie war schon wieder auf den Beinen, und es war nichts mehr an ihr zu finden. Iwan ging zum Friedensrichter; der leitete die Klage ans Bezirksamt weiter. Iwan gab sich große Mühe im Amt, er stiftete dem Schreiber und dem Bezirksvorsteher einen halben Eimer Süßen und erreichte schließlich, daß das Urteil gefällt wurde: Gawrilo sollte durchgeprügelt werden. Das Urteil wurde Gawrilo im Gericht auch vorgelesen.

Es liest also der Schreiber: „Das Gericht hat für Recht befunden: den Bauern Gawrilo Gordejew im Gemeindeamt mit zwanzig Rutenhieben zu bestrafen.“ Auch Iwan hört das Urteil an und beobachtet Gawrilo: was der wohl jetzt tun wird? Gawrilo hört zu, bleich ist er geworden wie Leinwand, dreht sich um und geht fort. Iwan geht hinter ihm, er will zu seinem Pferde. Da hört er Gawrilo sagen:

„Gut! Also er läßt meinen Rücken peitschen, es wird also brennen bei mir. Daß es aber nicht bei ihm einmal noch viel schlimmer brennt!“

Kaum hatte Iwan diese Worte gehört, so kehrte er sofort zurück ins Gericht.

„Gerechte Richter! Er droht mit Brandstiftung! Hört nur, vor Zeugen hat er das gesagt!“

Sie riefen Gawrilo zurück.

„Ist es wahr, daß du das gesagt hast?“

„Nichts habe ich gesagt. Prügelt mich doch, ihr habt ja die Macht! Ich muß wohl immer nur für meine Gerechtigkeit leiden; der aber darf alles.“

Gawrilo wollte eigentlich noch etwas sagen, aber Lippen und Wangen bebten ihm. Er wandte sich ab zur Wand. Sogar die Richter erschraken, als sie Gawrilo so sahen. „Wenn er nur nicht wirklich seinem Nachbar oder sich selbst etwas Böses antut!“ denken sie bei sich.

Und ein alter Richter spricht:

„Wißt ihr, liebe Leute, kommt lieber im Guten zusammen! War das etwa schön von dir gehandelt, Gawrilo, eine schwangere Frau zu schlagen? Es ist ja noch gut, daß Gott gnädig gewesen ist – denke nur, welcher Sünde du sonst schuldig gewesen wärest! Ist das etwa schön? Gib deine Schuld zu, verneige dich vor ihm. Er wird dir verzeihen. Das Urteil ändern wir dann ab.“

Als der Schreiber das hörte, sagte er:

„Das ist nicht zulässig, denn ein friedlicher Vergleich nach Punkt 117 ist nicht zustande gekommen. Das Gericht hat sein Urteil gefällt, und das Urteil muß nun rechtskräftig werden.“

Aber der Richter achtete des Schreibers nicht.

„Schwatz’ nicht unnützes Zeug! Der erste und wichtigste Punkt, Verehrtester, lautet so: man soll an Gott denken. Und Gott hat befohlen, man soll sich versöhnen.“

Und der Richter versuchte wieder, den Bauern zuzureden, – aber ohne Erfolg. Gawrilo wollte nicht auf ihn hören.

„Ich bin jetzt bald fünfzig,“ sagt er, „ich habe einen verheirateten Sohn, ich habe nie im Leben Prügel bekommen. Jetzt hat der lausige Wanka mir zu Rutenhieben verholfen, und vor dem soll ich mich noch verneigen? Hört mir nur auf damit … Aber der Wanka soll noch an mich denken!“

Gawrilos Stimme bebte wieder. Er konnte nicht weiterreden, drehte sich um und ging hinaus.

Vom Bezirksamt bis zu seinem Gehöft waren zehn Werst, und Iwan kam erst spät nach Hause. Die Weiber waren schon fort, um das Vieh zu holen. Er spannte das Pferd aus, besorgte alles und trat in die Stube. Niemand war drinnen. Die Söhne waren noch nicht vom Felde zurück, die Weiber waren nach dem Vieh gegangen.

Iwan trat ein, setzte sich auf die Bank und versank in Nachsinnen. Er dachte daran, wie man Gawrilo das Urteil vorgelesen, wie er erbleicht war und sich zur Wand umgedreht hatte. Und es gab ihm einen Stich im Herzen. Er malte sich aus, wie ihm selbst zumute sein würde, wenn man ihn zu Rutenhieben verurteilt hätte. Und er fühlte Mitleid mit Gawrilo. Da hörte er, wie der Alte auf dem Ofen hustete, sich dann umdrehte, die Beine nach unten hängen ließ, vom Ofen herabkletterte. Der Alte kam herunter, schleppte sich bis zur Bank und setzte sich. Er war ganz ermattet von dem Wege bis zur Bank und mußte husten. Er stützt sich auf den Tisch und spricht: „Wie ist es? Hat man ihn verurteilt?“

Iwan antwortet: „Zu zwanzig Rutenhieben hat man ihn verurteilt.“

Der Alte schüttelte den Kopf.

„Du handelst schlimm, Iwan“, sagt er. „Och, schlimm! Nicht ge­gen ihn, gegen dich selbst handelst du schlecht. Was nützt es dir, wenn sie ihm den Rücken verhauen, wie?“

„Er wird es in Zukunft nicht wieder tun“, entgegnete Iwan.

„Was wird er nicht tun? Was tut er denn Schlimmeres als du?“

„Wie? Was er mir getan hat?“ antwortete Iwan. „Das Weib meines Sohnes hätte er beinahe totgeschlagen. Jetzt droht er, mir das Haus anzuzünden. Soll ich ihm vielleicht noch Dank sagen dafür?“

Der Alte seufzte. Dann sagt er:

„Du läufst und fährst immer frei in der Welt herum, Iwan, ich aber liege schon wer weiß wieviel Jahre auf dem Ofen, und deshalb bildest du dir ein, du sähest alles und ich sähe nichts. Nein, mein Junge, gar nichts siehst du; der Zorn hat dir die Augen verdunkelt. Fremde Sünden sieht man vor sich, aber die eigenen hat man hinter dem Rücken! Was hast du da gesagt? Er tut böse. Wenn nur er allein böse täte, so wäre das Übel noch nicht so groß. Stammt etwa das Übel zwischen den Menschen nur von einem einzigen? Zum Bösen gehören immer zwei. Seine Schlechtigkeit siehst du, aber deine eigene nicht. Wenn er allein böse wäre, und du wärest gut, so gäbe es kein Übel. Wer hat ihm den Bart ausgerissen? Wer hat die ganze Geschichte angefangen? Wer hat ihn vor Gericht gezerrt? Und du willst nun alles auf ihn schieben! Selbst handelst du böse, deshalb ist es so schlimm. Ich habe nicht so gelebt, mein Lieber, und nicht das habe ich euch gelehrt. Ich und der Alte, sein Vater, – haben wir etwa so gelebt? Wie haben wir gelebt? Als gute Nachbarn! Wenn bei ihm das Mehl zu Ende war, so kam seine Frau: ,Onkel Frol, wir brauchen Mehl.‘ –,Geh in den Speicher, junge Frau, nimm dir, was du brauchst!‘ Er hat mal niemanden, den er mit den Pferden schicken könnte. ,Geh, Waniatka, geh du mit seinen Pferden!‘ Und wenn mir etwas fehlte, dann ging ich zu ihm. ,Onkel Gordej, das und das brauche ich.‘ – ,Nimm dir, Onkel Frol!‘ So ging es bei uns zu! Und unser Leben war leicht. Aber wie ist es jetzt? Da hat uns der Soldat neulich von Plewna erzählt … Aber dieser Krieg hier bei uns ist ja viel schlimmer als der bei Plewna! Das ist doch überhaupt kein Leben mehr! Und die Sünde! Du bist doch ein Mann, du bist der Herr im Hause. Du hast die Verantwortung. Weshalb leitest du deine Weiber und Kinder zu so etwas an? Zu ewigen Zänkereien … Neulich hat schon Taraska, der Rotzjunge, die Tante Arina unflätig ausgeschimpft, und seine Mutter lacht noch darüber! Ist das etwa richtig? Du mußt es doch verantworten! Denk’ nur mal an deine Seele! Darf man denn so handeln? Du sagst mir ein Wort, ich dir zweie – ich haue dir eine Backpfeife, du gibst mir zweie wieder. Nein, mein Lieber, Christus ist doch auf Erden gewandelt und hat uns dumme Kerle ganz was anderes gelehrt. Wenn man dir ein Wort sagt, dann halt’s Maul: dem andern wird schon mal das Gewissen schlagen. So hat er uns gelehrt, der Herr. Haut man dir eine Backpfeife, so halte die Wange hin für die nächste. ,Hier schlag, wenn ich es so verdiene!‘ Sein Gewissen wird sich schon rühren. Er wird demütig werden und auf dich hören. So hat der Herr uns befohlen, – aber nicht, hochmütig zu sein. Warum sagst du denn nichts? Habe ich recht?“

Iwan schweigt und hört zu.

Der Alte mußte husten, kam nur mühsam wieder zu Atem und fuhr fort:

„Meinst du, Christus habe uns etwas Schlechtes gelehrt? Er sagte doch alles nur zu unserm Besten. Denk’ mal über das irdische Leben nach! Geht es dir besser oder schlechter, seit dieses Plewna hier bei uns angefangen hat? Rechne mal aus, was dich die Gerichte schon gekostet haben, was du verfahren und unterwegs verzehrt hast! Wie die Adler sind deine Söhne, du könntest so behaglich leben und es immer weiter bringen. Aber jetzt nimmt dein Wohlstand ab! Und weshalb? Ich will dir sagen, weshalb. Weil du hochmütig bist. Du solltest mit deinen Söhnen auf dem Felde pflügen und selbst säen, aber der böse Feind schleppt dich ins Gericht oder zu den Rechtsverdrehern. Wenn du nicht zur rechten Zeit pflügst und zur rechten Zeit säst, dann spendet dir Mutter Erde nichts. Weshalb ist der Hafer diesmal nicht gediehen? Wann hast du gesät? Als du aus der Stadt kamst … Und was hast du erreicht? Alles kommt dir nur selbst auf den Hals. Ach, Junge, denk’ an deine eigenen Angelegenheiten, tummle dich mit deinen Söhnen auf dem Acker und im Hause; tut dir aber jemand was zuleide, so verzeih ihm in Gottes Namen: deine Arbeit wird dir besser vonstatten gehen, und auf der Seele wird dir leichter sein.“

Iwan schweigt immer noch.

„Weißt du was, Wanja? Hör’ auf mich alten Mann! Geh, spann’ den Schecken an, fahr gleich wieder zurück aufs Amt, mach’ da der ganzen Geschichte ein Ende, und morgen früh geh zu Gawrilo, söhne dich mit ihm aus, in Gottes Namen. Lade ihn ein, morgen ist ja Feiertag“ –es war um Mariä Geburt – „laß den Samowar bringen, kauf’ ein Halbstof Schnaps und mach’ dich frei von all den Sünden, so daß ein Ende ist mit ihnen, und bring’ auch den Weibern und Kindern Vernunft bei!“

Da seufzte auch Iwan. Er dachte: „Der Alte spricht die Wahrheit“, und aller Groll wich von ihm. Er weiß nur nicht recht, wie er es anfangen soll, sich zu versöhnen.

Da fuhr der Alte fort, als hätte er es erraten.

„Geh, Wanja, schieb es nicht auf. Lösch’ das Feuer, solange es glimmt; wenn es erst einmal hell lodert, so zwingst du es nicht mehr.“

Der Alte wollte noch etwas sagen, aber er konnte nicht ausreden. Die Frauen kamen in die Stube und lärmten wie die Elstern. Sie hatten schon die Neuigkeit gehört, daß Gawrilo zu Rutenhieben verurteilt war, daß er gedroht hatte, das Haus anzuzünden. Alles hatten sie erfahren und noch ihr Eigenes hinzugefügt, und sie hatten sich mit Gawrilos Weibern schon auf der Weide herumgezankt. Sie erzählten, Gawrilos Schwiegertochter habe jetzt mit dem Gerichtssekretär gedroht. Der Gerichtssekretär, behauptete sie, sei auf Gawrilos Seite und würde jetzt die ganze Sache umdrehen. Der Schullehrer, sagten sie, habe schon eine neue Bittschrift gegen Iwan aufgesetzt, an den Zaren, und habe darin alles Geschehene aufgezählt: die Geschichte von dem Bolzen, und die vom Gemüsegarten, – und die Hälfte von Iwans Besitz würden jetzt sie bekommen. Iwan hörte all das Geschwätz an, sein Herz wurde wieder hart, und er gab den Gedanken auf, sich mit Gawrilo zu versöhnen.

Ein Bauer hat immer viel Arbeit auf seinem Hofe. Iwan ließ sich nicht in langes Gerede mit den Weibern ein, sondern stand auf und ging hinaus, auf die Tenne und in die Scheune. Als er da mit seiner Sache fertig war und wieder auf den Hof trat, war schon die Sonne untergegangen. Auch die Söhne waren vom Felde heimgekommen; sie hatten den mit Sommerkorn bestandenen Boden zu zweit für die Wintersaat umgepflügt. Iwan empfing sie, half ihnen beim Abspannen, legte sich dann ein beschädigtes Kumt zum Ausbessern zurecht und wollte eigentlich noch Stangen in die Scheune räumen, aber es war inzwischen schon ganz finster geworden. So ließ Iwan die Stangen für morgen; er gab dem Vieh Futter, öffnete dann das Tor und ließ Taraska, der zur Nachtweide reiten sollte, mit den Pferden auf die Straße hinaus, schloß wieder zu und legte den Balken vor. ,So, jetzt zur Nacht essen und dann schlafen‘, dachte Iwan, nahm das beschädigte Kumt und ging in die Stube. Gawrilo und die Worte des Vaters hatte er inzwischen ganz vergessen. Gerade wie er den Türring faßt und in den Flur treten will, hört er, wie drüben, hinter dem Zaun, der Nachbar mit heiserer Stimme auf jemand schimpft. „Der Teufel soll ihn holen,“ schreit Gawrilo vor sich hin, „totschlagen sollte man ihn.“ Und in Iwan flammte bei diesen Worten der frühere Zorn gegen den Nachbar wieder auf. Er blieb einen Augenblick stehen und hörte zu wie Gawrilo schimpfte. Dann verstummte Gaw­rilo, und Iwan trat in die Stube. In der Stube hatte man schon Licht gemacht; die junge Frau sitzt in der Ecke und spinnt, die Alte bereitet das Nachtessen, der älteste Sohn macht Bastschuhe, der zweite sitzt mit einem Buch am Tisch. Taraska rüstet sich, auf die Nachtweide zu reiten.

In der Stube war alles so schön und behaglich, – wäre nur der böse Nachbar nicht gewesen, diese Frostbeule!

Zornig war Iwan eingetreten, er warf die Katze von der Bank und fuhr die Weiber hart an, weil ihre Kufe nicht am richtigen Platze stände. Ganz verdrießlich war Iwan; er setzte sich, machte ein finsteres Gesicht und begann sein Kumt zu flicken. Gawrilos Worte wollten ihm nicht aus dem Kopfe: wie er vor Gericht gedroht hatte, und wie er eben noch heiser jemanden gescholten hatte: „Totschlagen müßte man ihn!“

Die Alte brachte Taraska das Nachtessen: er aß, zog den Pelz an, den Kaftan, gürtete sich, nahm Brot und ging auf die Straße zu den Pferden. Der älteste Bruder wollte ihn begleiten, aber Iwan stand selbst auf und trat hinaus auf die Vortreppe. Draußen war es schon ganz dunkel, schwarze Wolken standen am Himmel und Wind war aufgekommen. Iwan schritt die Vortreppe hinab, half Taraska aufs Pferd, trieb ihm das Füllen nach, stand da, schaute und horchte, wie Taraska durch das Dorf davonritt, wie er mit anderen Burschen zusammentraf, wie sie alle zusammen schließlich aus der Hörweite entschwanden. Noch lange blieb Iwan am Tore stehen, und Gawrilos Worte wollten ihm immer noch nicht aus dem Sinne: „Wenn es nur nicht schlimmer bei ihm brennt!“

„An sich selbst wird er nicht denken“, überlegt Iwan. „Solche Trockenheit haben wir, und windig ist es auch. Wenn er jetzt von hinten heranschleicht und Feuer anlegt, dann kann er schön ausrei­ßen. Er kann das Haus anzünden, der Bösewicht, ohne daß ihm jemand etwas nachweisen könnte. Ich müßte ihn dabei ertappen, so daß er nicht entwischen kann!‘ Und der Gedanke ergriff so von ihm Besitz, daß er nicht wieder auf die Vortreppe zurückkehrte, sondern geradeaus auf die Straße ging, zum Tore hinaus, um die Ecke. „Ich will doch mal um den Hof herumgehen. Wer weiß, was der vorhat.“ Gerade wie er um die Ecke bog und den Zaun entlang schaute, kam es ihm so vor, als huschte an der andern Ecke etwas vorbei, als käme da etwas zum Vorschein und verschwinde dann wieder um die Ecke. Iwan blieb stehen und hielt den Atem an. Er lauscht und horcht … Alles ist ruhig, nur der Wind rauscht in den Blättern und raschelt im Stroh. Erst war es stockfinster, die Hand konnte man nicht vor den Augen sehen; jetzt hatten sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt: Iwan sieht jetzt deutlich die Ecke vor sich, den Pflug und den Schuppen. Einen Augenblick steht er da und sieht genau hin: es ist niemand da.

„Es ist mir wohl nur so vorgekommen“, denkt Iwan. „Aber ich will doch lieber herumgehen.“ Und er schleicht vorsichtig die Scheune entlang weiter. Ganz leise tritt er in seinen Bastschuhen auf, so daß er seine eignen Schritte nicht hört. Jetzt ist er an der Ecke angelangt … Halt, da blinkt etwas am Pfluge … und verschwindet wieder. Iwan fühlte einen Stich im Herzen und blieb stehen. Wie er haltgemacht hat, blitzt es an der Stelle auf … heller … ganz deutlich sieht er, wie da, mit dem Rücken zu ihm, ein Mann hockt, mit einer Mütze auf dem Kopf, und ein Büschel Stroh anzündet, das er in den Händen hält. Heftig klopfte Iwan das Herz in der Brust, wie ein Vogel zuckt; er richtete sich stramm auf und ging mit großen Schritten vorwärts. Er fühlt seine Füße nicht mehr unter sich. „Nun,“ denkt er, „jetzt soll er mir nicht entkommen; auf frischer Tat ertappe ich ihn.“

Iwan war noch nicht so weit gekommen, als es plötzlich helllodernd aufflammte; aber jetzt nicht an dieser Stelle, und nicht nur ein kleines Feuer, sondern eine große Flamme schlägt aus dem Stroh unter dem Vordach und leckt nach dem Dach hinauf. Da steht auch Gawrilo und ist ganz deutlich zu sehen.

Wie ein Habicht auf eine Lerche stürzt Iwan auf ihn zu. „Ich will ihn binden,“ denkt er, „jetzt entkommt er mir nicht mehr.“ Aber Gawrilo hatte die Schritte wohl gehört, er sah sich um und humpelte wie ein Hase, mit einer Geschwindigkeit, die man ihm nicht hätte zutrauen sollen, längs der Scheune davon.

„Du entkommst mir nicht“, schrie Iwan und stürzte hinter ihm her.

Schon wollte er ihn am Kragen packen, da entriß sich Gawrilo seinen Händen, und Iwan blieb mit dem Rockschoß hängen. Der Rockschoß riß, und Iwan stürzte hin. Er springt wieder auf, schreit: „Zu Hilfe! Halt ihn!“ und läuft ihm nach.

Bis er wieder hochkam, war Gawrilo schon bei seinem Hof. Aber da erwischte ihn Iwan. Und er wollte schon zupacken, als ihn plötzlich ein Hieb über den Kopf betäubte, als hätte ihn ein Stein auf den Scheitel getroffen. Gawrilo hatte auf dem Hof einen Eichenknüttel aufgehoben und Iwan, als der auf ihn zustürzte, mit aller Gewalt damit über den Schädel geschlagen.

Iwan wurde dumpf im Kopf, Funken sprühten ihm aus den Augen, dann war alles dunkel, und er wankte. Als er wieder zu sich kam, war Gawrilo nicht mehr da; es war tageshell, und von der Seite seines Hofes her dröhnte und krachte es, als führe die Eisenbahn vorbei. Iwan wandte sich um und sah, daß die hintere Scheune in hellen Flammen stand, die Seitenscheune hatte es auch schon gefaßt, und Feuer, Rauch und glimmendes, qualmendes Stroh trieb auf das Haus zu.

„Was ist denn das ?“ schrie da Iwan laut auf, hob die Hände und schlug sich auf die Schenkel. „Ich hätte es doch nur aus dem Dach herauszuziehen und auszutreten brauchen! – Was ist denn das ?“ rief er noch einmal. Er wollte schreien – aber der Atem ging ihm aus, die Stimme versagte. Er wollte fortlaufen, aber die Füße bewegten sich nicht, verwickelten sich ineinander. Er schritt langsam dahin – wieder blieb ihm die Luft aus. Er machte halt, holte Atem und ging wieder weiter. Als er um die Scheune herum war und bei der Brandstätte anlangte, brannte auch die Seitenscheune bereits lichterloh; das Feuer hatte auch schon auf eine Seite des Hauses übergegriffen, auf das Tor. Aus dem Hause schlugen helle Flammen, und in den Hof war nicht mehr hineinzukommen. Viele Leute waren zusammengelaufen, aber es war nichts mehr zu tun. Die Nachbarn schlepp­ten ihre Habe ins Freie und trieben ihr Vieh aus den Höfen. Nach Iwans Haus faßte auch Gawrilos Hof Feuer. Der Wind setzte ein und warf das Feuer über die Straße … Das halbe Dorf brannte nieder.

Bei Iwan konnten die Hausbewohner gerade noch den Alten herausbringen und sich selbst ins Freie retten, so wie sie waren. Aber sonst blieb alles zurück; außer den Pferden auf der Nachtweide kam alles Vieh um; die Hühner verbrannten auf ihren Stangen, die Telegen, Pflüge, die Truhen der Weiber, das Korn in den Scheunen, – alles verbrannte.

Bei Gawrilo hatte man das Vieh rechtzeitig herausgetrieben und einiges Hausgerät noch in Sicherheit gebracht.

Es brannte lange, die ganze Nacht hindurch. Iwan stand allein vor seinem Hof, schaute zu und sprach immer so vor sich hin: „Was ist das nur! Ich hätte es nur herauszuziehen und auszutreten brauchen!“ Aber als dann die Decke im Hause einstürzte, drang er mitten in die Glut, packte einen glimmenden Balken und wollte ihn herausziehen. Die Weiber sahen das und versuchten ihn zurückzurufen; aber er schleppte den Balken heraus und kletterte wieder hinein, um noch einen zu holen. Er stolperte und fiel ins Feuer. Da kletterte ihm einer von den Söhnen nach und zog ihn heraus. Iwan hatte sich Bart und Kopfhaar versengt, seine Kleider verbrannt und die Hände verletzt, aber er fühlte nichts. „Er ist vor Kummer närrisch geworden“, sagten die Leute. Schließlich ließ das Wüten des Feuers nach; Iwan aber stand immer noch da und murmelte so vor sich hin. „Was ist das denn, Brüder? Nur herausziehen hätte ich es müssen!“

Am Morgen schickte der Starost seinen Sohn zu Iwan.

„Onkel Iwan, dein Vater liegt im Sterben. Wir sollen dich holen, er will Abschied von dir nehmen!“

Iwan hatte den Vater ganz vergessen und verstand nicht, was man ihm sagte.

„Was für ein Vater?“ fragte er. „Wen sollt ihr holen ?“

„Wir sollen dich holen, er will Abschied nehmen, bei uns im Hause liegt er im Sterben. Komm, Onkel Iwan“, sagte der Sohn des Starosten und zog ihn an der Hand mit. Iwan folgte dem Sohn des Starosten.

Auf den Alten war glimmendes Stroh gefallen, als man ihn hinaustrug, und hatte ihn verletzt. Man hatte ihn zum Starosten gebracht, in einen entlegenen Teil des Dorfes, der nicht abgebrannt war.

Als Iwan zum Vater kam, war nur das Weib des Starosten in der Stube und die Kinder auf dem Ofen. Alle andern waren auf der Brandstätte. Der Alte lag mit einer Kerze in der Hand auf der Bank und schaute wartend nach der Tür. Als der Sohn eintrat, rührte er sich. Die Alte trat zu ihm und sagte, sein Sohn sei da. Er bat sie, ihn näher zu rufen. Iwan trat heran; da sprach der Alte:

„Was habe ich dir gesagt, Waniatka?“ sagte er. „Wer hat das Dorf niedergebrannt?“

„Er hat’s getan, Väterchen“, entgegnete Iwan. „Er hat’s getan; ich habe ihn abgefaßt. Ich habe gesehen, wie er Feuer ans Dach legte. Ich hätte nur das Strohbüschel mit dem Feuer herausreißen und austreten sollen, und nichts wäre gewesen.“

„Iwan“, sagte der Alte. „Mir ist der Tod nahe, und auch du mußt einmal sterben. Wessen Sünde ist es?“

Iwan starrte den Vater an und schwieg. Er brachte kein Wort heraus.

„Sprich vor Gott: wessen Sünde ist es? Was habe ich dir gesagt?“

Da erst kam Iwan zu sich und verstand alles. Er schnaufte durch die Nase und sprach:

„Meine Sünde ist es, Väterchen!“ Und er sank vor dem Vater in die Knie, brach in Tränen aus und sagte: „Vergib mir, Väterchen, ich bin schuldig vor dir und vor Gott!“

Der Alte bewegte die Arme, nahm die Kerze in die linke Hand, hob die rechte mühsam zur Stirn, wollte sich bekreuzen, aber er erreichte die Stirn nicht und hielt inne.

„Ehre sei dir, o Herr! Ehre sei dir, o Herr!“ sagte er und blickte wieder nach seinem Sohne hin.

„Wanka! Ach, Wanka!“

„Was ist, Väterchen?“

„Was soll jetzt geschehen?“

Iwan weinte immer noch.

„Ich weiß nicht, Väterchen“, antwortete er. „Wie sollen wir jetzt noch leben?“

Da schloß der Alte die Augen, mummelte mit den Lippen, als sammle er Kräfte, schlug dann die Augen wieder auf und sprach:

„Ich werde schon fertig werden mit dem Leben. Wenn ihr mit Gott lebt, dann werdet ihr schon fertig werden.“ Der Alte hielt einen Augenblick inne, lächelte milde und sagte:

„Hör’, Wanja, sage nicht, wer das Feuer angelegt hat. Bedecke du die fremde Sünde, dafür wird Gott dir zwei Sünden vergeben.“ Und der Alte nahm die Kerze in beide Hände, die er auf dem Herzen faltete, tat einen Seufzer, streckte sich aus und starb.

* * *

Iwan sagte nicht aus gegen Gawrilo, und niemand erfuhr, wie das Feuer ausgekommen war.

Iwans Groll gegen seinen Nachbar schwand, und Gawrilo wunderte sich über Iwan, daß der nicht gegen ihn aussagte.

Anfangs fürchtete sich Gawrilo noch vor ihm, aber allmählich gewöhnte er sich. Die Bauern hörten auf mit dem Zank, und ihre Familien taten ebenso. Während sie neu aufbauten, lebten beide Familien in einem Hause, und als das Dorf wieder stand – die Höfe lagen jetzt weiter voneinander – waren Iwan und Gawrilo wieder Nachbarn, in einem Nest.

Und Iwan und Gawrilo lebten gut nachbarlich, wie vor ihnen die Alten gelebt hatten. Und Iwan Stscherbakow vergißt nicht das Gebot des Alten und Gottes Gebot, daß man ein Feuer gleich zu Beginn löschen muß. Und wenn ihm jemand etwas Böses tut, so sinnt er nicht darauf, sich an dem andern zu rächen, sondern er sinnt darauf, wie er die Sache wieder gutmachen kann. Und wenn ihm jemand ein böses Wort sagt, so sinnt er nicht darauf, mit einem schlimmeren zu antworten, sondern wie er jenen belehren kann, nichts Übles zu reden. So lehrt er auch seine Weiber und seine Kinder. Und Iwan Stscherbakow kam wieder zu Wohlstand, und er lebte jetzt besser als zuvor.

LÖSCHE DAS FEUER, SOLANGE ES GLIMMT (1885)

Russischer Text ǀ Lew N. TOLSTOJ: Упустишь огонь – не потушишь ǀ Upustisch ogon – ne potuschisch (Laß den Funken nicht zur Flamme werden; Erstveröffentlichung im Verlag ‚Posrednik‘ 1886). In: PSS [Sowjetische Gesamtausgabe in 90 Bänden: Polnoe sobranie sočinenij]. Band 25, S. 46-58. Moskau 1937. [https://tolstoy.ru/online/90/25/].
„Der 1884 gegründete Verlag ‚Posrednik‘ (Der Vermittler) hatte das Ziel, gute und billige Bücher im Volk zu verbreiten, vor allem die Märchen, Erzählungen und didaktischen Schriften Tolstojs.“ (Gisela Drohla)

Die obige Übersetzung ist ungekürzt übernommen aus Band C016 der Tolstoi-Friedensbibliothek. Inzwischen liegt auch eine preiswerte Buchausgabe der Sammlung vor: Leo N. Tolstoi: Volkserzählungen 1872 – 1909. Übertragen von Erich Boehme. (= Tolstoi-Friedensbibliothek – Reihe C, Band 10). Norderstedt: BoD 2024. (ISBN: 9783759753243; 464 Seiten; Paperback; 16,90 €).
https://buchshop.bod.de/volkserzaehlungen-1872-1909-leo-n-tolstoi-9783759753243

Bildquelle (oben) ǀ Atombombentest Romeo (Sprengkraft 11 Mt), Aufnahme gemeinfrei: United States Department of Energy (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Castle_Romeo.jpg)