Leseprobe aus dem Buch „Der schwarze Stein aus Tschechows Garten. Meine schmerzliche Liebe zu Russland“ (2024)
Von Antje Leetz
Eine Begegnung mit Lew Tolstoi
Mein Lebensgefährte Ralf Schröder hatte in seinem Arbeitszimmer einen speziellen Tisch, auf dem „wichtige Lektüre“ lag, die er in der nächsten Zeit unbedingt lesen wollte. Auf diesem Tisch hatte ich alte Broschüren und schmale Bücher Tolstois vom Anfang des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache entdeckt, die ich nicht kannte.
Ralf erzählte mir, er habe sie gleich nach dem Krieg 1945 in den Berliner Antiquariaten erworben – „Ich kann nicht schweigen“, „Die Sklaverei unserer Zeit“, „Meine Beichte“, „Aufruf an die Menschheit“ und „Was sollen wir also tun?“ Die Titel befremdeten mich. Ich liebte den Tolstoi von „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“. Aber Ralf sagte, bei Tolstoi hänge alles zusammen. Damals habe ich das nicht begriffen. Als Ralf starb, sind diese Broschüren und Bücher zu mir gekommen. Ich habe sie wieder nicht beachtet und ins Regal gelegt. Einmal aber begann ich beim Staubwischen vorsichtig die brüchigen, vergilbten Seiten umblätternd, in diesen Schriften zu lesen. Was da stand, raubte mir fast den Atem, so aktuell empfand ich das vor hundert Jahren Geschriebene. „Die Sklaverei kommt von den drei gesetzlichen Bestimmungen her: über das Land, über die Steuern und über das Eigentum. Aber selbst die Aufhebung aller drei Gesetze vernichtet nicht die Sklaverei, sondern ruft nur eine neue, uns noch unbekannte Form hervor. Diese Gesetze werden nicht nach dem Willen aller eingeführt, sondern nur nach dem Willen derjenigen, welche die Macht haben. Daher sind sie stets und überall nur solche, wie sie für diejenigen vorteilhaft sind, welche die Macht haben. Und zur Macht steigen immer Leute empor, die weniger gewissenhaft sind als die andern und weniger sittlich.“
Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Ich entdeckte einen Tolstoi, den ich nicht kannte, einen radikalen, ketzerischen, der mit seinen Aussagen genau ins Schwarze traf: „Dass die Steuern durch das Parlament, das heißt durch die vermeintlichen Vertreter des Volkes festgesetzt werden, ändert die Sache nicht. Denn die Wahlen sind so eingerichtet, dass die Mitglieder des Parlaments keine Vertreter des Volkes, sondern Politiker sind; und wenn sie es auch von Haus aus nicht waren, so werden sie, sobald sie ins Parlament gelangen, doch zu Politikern, für die nur der persönliche Ehrgeiz und die Interessen der kämpfenden Parteien von Bedeutung sind.“
Zu der Zeit, als ich den mir unbekannten Tolstoi studierte, rückte sein 100. Todestag näher – er war im November 1910 gestorben. Der RBB fragte an, ob ich nicht ein Feature über den Schriftsteller machen könne. Ich würde mich doch auskennen. Das war ein wunderbare Zufall! Freudig stimmte ich zu, bereitete den Redakteur aber gleichzeitig darauf vor, dass ich mich dem ketzerischen Tolstoi der letzten Lebensjahre zuwenden wolle. Und um keinen Preis würde ich nach Jasnaja Poljana, dem Tolstoischen Landgut, fahren. Darüber hätte es schon viele Sendungen gegeben, das hätte keinen Reiz für mich. Meine Reise solle zu der kleinen abgelegenen Bahnstation Astapowo gehen, auf der Tolstoi auf dem schmalen Eisenbett des Bahnhofvorstehers Osolin starb. Ob er damit einverstanden wäre. Er stimmte zu. Aber wo liegt Astapowo? Keiner wusste, wie man dorthin kommt. Das war wieder genau das richtige Abenteuer für mich!
Obwohl ich eine schöne Geschichte über Jasnaja Poljana wusste, die ich gut in die Sendung hätte einbauen können. 1986 nämlich, während unserer Moskauer Jahre, war ich mit meinen beiden Kindern an einem Montag auf eigene Faust (Meine armen Kinder! Was die alles erleiden mussten wegen der Neugier und Abenteuerlust ihrer Mutter.) mit einer hoffnungslos überfüllten Elektritschka nach Tula gefahren und dann mit dem Taxi noch zwanzig Kilometer zum Tolstoi-Haus in Jasnaja Poljana. Aber als wir vor dem Museum standen, war alles verschlossen. Am Montag ist, wie ich erfuhr, immer Sanitarny den (Санитарный день)! (Wie kann man das übersetzen? Vielleicht mit Hygiene-Tag? Reinigungstag?) Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Eine Gruppe ukrainischer Geologen stand ebenfalls vor der verriegelten Tür. Doch sie ließen nicht locker und klopften hartnäckig. Da öffnete sich die Tür einen Spalt, der graue Kopf der Direktorin schaute heraus, und die Geologen baten sie in ständig um Einlass: Sie seien extra von weit her, aus der Ukraine, gekommen. Und diese kleine Familie hier sei aus der fernen DDR gekommen … Da ließ sich die Direktorin erweichen und machte eine Ausnahme für die Geologen und die „Freunde aus der DDR“. Als die Besichtigung zu Ende war, wandte sich einer der Geologen an uns: „Und jetzt zeigen wir euch eine Stelle, die viel schöner ist als das Museum und die viel besser zu Tolstoi passt.“ Sie nahmen meine kleine Tochter Anna in die Mitte, ließen sie hochfliegen, und führten uns zu einem magischen Ort im Park: Eine riesige alte Birke war mit einer riesigen alten Eiche zusammengewachsen. Beide Bäume hielten sich wie ein altes Paar umschlungen und stützten sich gegenseitig.
Aber ich wollte diesmal ja nicht nach Jasnaja Poljana, ich wollte in das unbekannte Astapowo! Und hier muss ich wieder sagen: Es lebe das Internet! Wenn man genau weiß, was man sucht. Ich erfuhr, dass Astopowo seit 1918 Lew Tolstoi heißt und fand auch die Webseite des Ortes mit einem Hinweis auf das kleine Museum, das leider keine eigene Mail-Adresse und Webseite, aber eine normale Postanschrift hatte: Russland. Oblast Lipezk, Siedlung Lew Tolstoi. Bahnhofstraße Nummer 12, Tolstoi-Museum. So beschriftete ich im Januar 2010 auf altbewährte Weise ein blaurot gestreiftes Luftpostkuvert. Wohl wissend, dass in Russland die Briefe ewig unterwegs sein oder gar nicht erst ankommen können. Aber schon drei Wochen später erhielt ich den ersehnten Briefumschlag mit einer schönen russischen Briefmarke, auf der ein Eisbär abgebildet war. Es war die Einladung der Museumsdirektorin Raissa Nikolajewna Krylowa. Ich solle lieber erst Ende April kommen, da sei es wärmer. Jetzt, Ende Januar, herrsche bei ihnen strenger Frost von 25-30 Grad. Ich war gerührt von ihrer Sorge um mich. Dann instruierte sie mich: „Wenn Sie in Moskau vom Pawelezker Bahnhof abends um 21:35 Uhr losfahren, sind Sie am nächsten Morgen um 10:45 Uhr bei uns. Am Abend desselben Tages können sie um 20:20 Uhr wieder zurückfahren.“ Ein Tag nur! Das geht auf keinen Fall! Ich antwortete umgehend, ich brauchte mindestens drei Tage für meine Ton-Aufnahmen und ob sie mir eine Übernachtung besorgen könne.
Einige Wochen vergingen, bis die Antwort kam: „Verehrte Antje, was die Übernachtung in unserer Siedlung betrifft, so sage ich Ihnen, dass es ein altes Hotel gibt, allerdings ohne ‚Sterne‘. Dort können Sie übernachten. Das neue große Hotel befindet sich noch im Bau – für die Gäste aus dem In- und Ausland, die im November zum 100. Todestag kommen. Auf Wiedersehen.
P.S. Wenn Sie in Moskau sind, rufen Sie uns einfach an. Wir holen Sie vom Bahnhof ab. Er befindet sich direkt neben dem Museum.
Herzliche Grüße von Raissa Nikolajewna Krylowa.“
Ich plante also meine Reise für den April, da lief ich nicht mehr Gefahr, im Schnee zu versinken oder auf Glatteis auszurutschen. So hoffte ich. Ich bin schließlich nicht mehr die Jüngste und habe panische Angst vor dem Hinfallen. Ich fliege also im April 2010 nach Moskau, wie immer mit der altbewährten Aeroflot.
Zwei Tage vor meiner Abreise nach Astapowo besuche ich Tolstois Wohnhaus im Stadtbezirk Chamowniki in der Nähe der Metrostation „Park kultury“. Zwei Mal bin ich schon während unseres dreijährigen Moskauer Aufenthalts hier gewesen. Tolstois Wohnhaus ist einer der schönsten und ruhigsten Orte in der lauten Stadt – ein russisches Blockhaus von brauner Farbe. Die Fensterläden sind grün angestrichen. Das ganze Anwesen macht einen sehr gepflegten Eindruck. Der Garten grenzt direkt an eine Fabrikmauer. Uralte Bäume spenden Schatten, jetzt im April blühen die Krokusse und dieselben blauen Blümchen wie in meinem Garten in Berlin, deren Namen ich vergessen habe. Es sind nur ein paar Besucher gekommen an diesem Vormittag. Einer Gruppe junger Leute wird ein Holzklotz gezeigt. Hier habe Tolstoi Brennholz gehackt, erklärt die Museumsführerin. Auf dem Weg von der Metro zum Tolstoi-Haus war ich an einer kleinen Kirche vorbeigekommen. Es saßen viele Bettler dort und streckten die Hand aus. Die Glocken hörten gar nicht auf zu läuten, wahrscheinlich war gerade der sonntägliche Gottesdienst zu Ende gegangen. Der Batjuschka, der Geistliche, trat aus einer besonderen, von der Polizei bewachten Tür. Das schwarze Gewand, die hohe schwarze Mütze und der dicke Bauch, der von überreicher Ernährung zeugte, verliehen ihm altslawische Würde. Er strich gönnerhaft einem kleinen Jungen über den Kopf, um dann in einem schwarzen Toyota mit getönten Fenstern zu verschwinden.
Die Kirche wurde 1679 erbaut. Also gab es sie schon, als Tolstoi hier lebte. Aber er ist bestimmt nicht hineingegangen, denn er konnte die Falschheit und Heuchelei der Geistlichkeit nicht ertragen, die es bis heute gibt.
Ich frage mich, warum Tolstoi sich ausgerechnet diese Straße mit mehreren Fabriken zum Wohnen ausgesucht hat. Wenn man sein Haus mit dem fürstlichen von Goethe in Weimar am Frauenplan vergleicht, so erscheint es einem als sehr bescheiden. Aber Tolstoi hatte ja noch Jasnaja Poljana. Doch auch da lebte er sehr bescheiden, kochte sich jeden Morgen seinen Haferbrei selbst und wischte in seinem Arbeitszimmer Staub und war so in Gedanken versunken, dass er nicht mehr wusste, wo er mit dem Wischen angefangen hatte. Zumindest war das so in den letzten zehn Jahren seines Lebens.
Seit 1881 wohnten die Tolstois den Winter über in Moskau – die Gräfin Sofia Andrejewna, der Graf Lew Tolstoi, die acht Kinder – fünf weitere sollten noch folgen –, die Diener und Köche. Das war ein ganz anderes Leben als das in Jasnaja Poljana.
In seinem Essay „Was sollen wir also tun?“ schrieb Tolstoi: „Ich habe mein ganzes Leben auf dem Lande verbracht. Als ich 1881 nach Moskau zog, war ich erstaunt über die vielen Armen in der Stadt. Ich kenne die Dorfarmen; doch die Stadtarmen waren für mich etwas Neues und Unverständliches. Man kann in Moskau durch keine Straße gehen, ohne Bettlern zu begegnen … Einmal ging ich spätabends nach Hause. Im Schnee des Dewitschjepolje fielen mir mehrere schwarze Punkte auf … Wahrscheinlich hätte ich gar nichts bemerkt, hätte nicht ein Wachtmeister dagestanden, der den schwarzen Punkten zurief: ‚Wassili! Wo bleibst du denn?‘ – ‚Sie rührt sich nicht vom Fleck!‘, antwortete von fern eine Stimme, und gleich darauf bewegten sich die Punkte auf den Wachtmeister zu. Ich blieb stehen und fragte den Wachtmeister: ‚Was ist los?‘ Er sagte: ‚Wir haben ein paar Dirnen mitgenommen und sie auf die Wache gebracht, und die eine dort ist zurückgeblieben, sie will nicht.‘ Diese eine begleitete ein Hauswart, der einen warmen Schafpelz trug. Sie ging, von ihm geschoben, vor ihm her. Wir alle – ich selbst, der Hauswart und auch der Wachtmeister – trugen Winterkleidung, allein sie hatte nur ein Kleid an … ‚Wegen dir, Aas, kommen wir nicht vorwärts. Nun mach schon! Dir werd ich’s zeigen!‘ schrie der Wachtmeister… Sie taumelte ein wenig und krächzte: ‚Lass mich, schubs mich nicht! Ich kann allein gehen!‘ ‚Du wirst noch erfrieren‘, sagte der Hauswart. ‚Unsereins erfriert nicht. Ich bin heiß.‘ Es sollte ein Scherz sein, aber ihre Worte klangen wie unflätiges Schimpfen. An der Straßenlaterne vor unserem Haustor blieb sie wieder stehen, lehnte sich an den Zaun und suchte mit ungeschickten, klammen Fingern in ihren Röcken herum. In der einen Hand hielt sie eine verbogene Papirossa, in der anderen Schwefelhölzer. Ich blieb hinter ihr stehen: ich schämte mich, an ihr vorbeizugehen und ich schämte mich dazustehen und zuzuschauen. Da fasste ich mir ein Herz und trat zu ihr… Ich betrachtete ihr Gesicht. Sie machte den Eindruck einer älteren Frau; ich gab ihr dreißig Jahre. Ihr Gesicht war schmutzig. Sie sah mich an und lachte spöttisch, als kenne sie all meine Gedanken. Ich wollte ihr gern zeigen, dass ich Mitleid mit ihr hatte. ‚Haben Sie Eltern?‘, fragte ich. Sie lachte höhnisch, als wollte sie sagen, was sucht der alte Knacker so krampfhaft nach Fragen. ‚Ich habe eine Mutter‘, sagte sie. ‚Was geht dich das an?‘ – ‚Wie alt sind Sie?‘ – ‚Sechzehn‘, beantwortete sie auf der Stelle die offenbar gewohnte Frage. ‚Marsch vorwärts, mit dir erfriert man ja, hol dich der Henker!‘, schrie der Wachtmeister, und sie stieß sich vom Zaun ab und schwankte die Chamowniki-Gasse hinab zur Wache, während ich durch unser Tor ging, das warme Haus betrat und den Diener fragte, ob meine Töchter schon zurück seien …“
Auf seinen Reisen und Wanderungen hatte Tolstoi schon vordem viel Armut gesehen, aber eben nicht die proletarische Armut der Großstadt, geboren aus dem neuen Maschinenzeitalter. Bald begreift er, dass man diese Armut nicht allein durch Mitleid und Spenden beseitigen kann. Das seien „vergebliche Einzelaktionen“, schreibt er in seinem Essay. „Geld allein kann hier nicht helfen, die tragischen Existenzen dieser Leute zu verändern.“ Eine wirkliche Änderung kann nur durch eine totale Umwälzung des ganzen gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems erreicht werden. Im Eigentum sieht Tolstoi die Wurzel allen Übels. „Die Staaten, die Regierungen, schmieden Intrigen und führen Kriege nur um des Eigentums willen: um die Rheinufer, um Land in Afrika oder China. Die Bankiers und Handelsherren, die Fabrikanten und Landbesitzer rackern sich ab, klügeln Listen aus, quälen sich und quälen andere um des Eigentums willen. Die Staatsbeamten und Grundbesitzer schwitzen, betrügen, unterdrücken, leiden um des Eigentums willen; Gerichte und Polizei bewachen das Eigentum.“
Ein Jahr vor der Niederschrift des Essays „Was sollen wir also tun?“ hatte Tolstoi an der Durchführung der Moskauer Volkszählung vom Januar 1882 teilgenommen. Er ließ sich das Viertel in der Nähe seiner Wohnung zuweisen, in dem vor allem Wäscherinnen, Färber, Schuster, Prostituierte, Alkoholiker lebten. Auf diese Weise lernte er unmittelbar die Armut der Stadt kennen. Er empfand große Scham. Dieses Erlebnis veränderte Tolstois Wahrnehmung radikal.
„Mein Haus ist von mehreren Fabriken umgeben. Jeden Morgen um fünf Uhr ertönt erst ein Sirenenton, dann ein zweiter, ein dritter, ein zehnter und so weiter … Das erste Zeichen – fünf Uhr morgens – bedeutet: Menschen, die in einem feuchten Keller geschlafen haben, erheben sich im Finstern, eilen in die dröhnenden Maschinensäle und beginnen eine Arbeit, deren Ergebnis und Nutzen sie nicht kennen, und arbeiten zwölf und mehr Stunden hintereinander. Dann legen sie sich schlafen, stehen am nächsten Morgen auf und setzen immer wieder von neuem eine für sie sinnlose Arbeit fort. Und heute nun, am Sonntag, betreten diese Arbeiter die Straße: Überall gibt es Wirtshäuser, Kneipen, die dem Zaren gehören, Dirnen. Ich hatte schon früher solche Scharen taumelnder Fabrikarbeiter gesehen, war ihnen angeekelt aus dem Weg gegangen, und es hätte nicht viel gefehlt, dass ich sie tadelte; seit ich aber Tag für Tag die Sirenen höre und ihre Bedeutung kenne, wundere ich mich nur noch da rüber, dass sich nicht alle Männer den Bettlerhorden anschließen, von denen Moskau voll ist, und dass nicht alle Frauen zu Dirnen werden wie die, welche ich vor meinem Haus traf.“
Der Essay „Was sollen wir also tun?“ stieß bei der russischen Zensur auf große Schwierigkeiten. Er konnte 1886 nur mit umfangreichen Streichungen erscheinen. Aber schon damals gab es den Samisdat, den Selbstverlag. Der Text wurde von Hand vielfach abgeschrieben, meist von Studenten. Und hundert- oder vielleicht tausendfach gelesen. In Russland war Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Leserschaft entstanden, mit neuem Interesse für Tolstoi – Arbeiter, Studenten, Bauern, die in die Stadt gezogen waren und lesen konnten.
Mit dieser Lektüre im Kopf besteige ich am 14. April 2010 um 22:34 Uhr auf dem Pawelezker Bahnhof einen „obstschi wagon“ (общий вагон) des Zuges nach Lipezk. Ich habe Glück und bekomme ein unteres Bett ab, muss also nicht nach oben klettern. Obstschiwagon bedeutet, dass es keine abgeschlossenen Schlaf-Coupés gibt, sondern dass die Betten reihenweise über den gesamten Waggon verteilt sind, es gibt keine Trennwände – eine sehr volkstümliche Art des Eisenbahnfahrens. Man kann alle Gespräche mithören. Und wie wir wissen, schütten die Menschen ihr Herz am meisten auf langen Bahnfahrten aus. Wildfremden Leuten.
Tolstoi reiste allerdings viel unbequemer als ich, auf einer Holzbank nämlich in einem verräucherten, zugigen Wagen dritter Klasse. Kein Wunder, dass er sich eine Lungenentzündung holte, an der er letztlich starb.
„Gerade haben die Bullen einen eingesackt, weil er keine Dokumente dabei hatte!“, erklärt eine dicke Frau ein paar Meter entfernt. „Oi bedá!“ (Ой беда!) – „Was für ein Unglück!“ Eine zahnlose Babuschka bemitleidet den jungen Mann und alle Menschen auf der Welt.
Da ist er wieder, der Zufall, wie bei Tschechow. Dort der Matrose am Schwarzen Meer in Jalta, Tschechows Sendbote, hier das alte Mütterchen, von Tolstoi geschickt. Sie trägt einen langen alten Pelzmantel mit Männergürtel und Filzstiefel, hat einen knotigen Stock in der Hand und ein Bündel auf dem Rücken. Sie erinnert mich sehr an den berühmten Alten mit der Mushik-Bluse und dem Wanderstab. So ging Tolstoi auf Pilgerreise – ohne Pass. Gendarmen griffen ihn auf. Tolstoi genoss dieses Abenteuer. Ihm gefiel, dass sie ihn wegen der einfachen Bauernkleidung für einen Vagabunden hielten.
Die Alte hat es ächzend geschafft, auf ihr oberes Bett zu klettern. „Die Achtzigjährige schafft das noch!“, kichert sie. Und: „Ach, wie gut!“. Sie streckt sich aus, seufzt, spricht den lieben Gott an und rührt sich nicht mehr. Und ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, denn ich liege bequem auf meinem unteren Bett und hätte es doch der Alten anbieten müssen.
Langsam fährt der Zug los. „Wollen wir nun endlich schlafen!“ Schnarcher und plappernde Passagiere werden von strengen Frauenstimmen zur Ruhe gebracht.
Wären nicht die Handys, könnte man sich zurückversetzen in jenes Jahr 1910, als Tolstoi aus Jasnaja Poljana floh und in Richtung Süden fuhr – das gleiche bunte Bild: Großmütter mit Körben, eine inständig sich bekreuzigende junge Frau mit Kopftuch, eine kinderreiche Zigeunerfamilie. In Russland entwickelt sich die moderne Zeit eben langsamer als in Westeuropa. Bald sieht man im Dunkeln Dörfer vorbeifahren, kleine Feuer und weiße Birken. Am nächsten Morgen gleich früh um sieben kommt die Alte von ihrem Bett heruntergeklettert, steigt in die Filzstiefel, setzt sich neben mich und erzählt mir mit ihrem zahnlosen Mund, dass sie in diesem lauten, verdorbenen Moskau, wo hin sie wegen der Rente gefahren war, um nichts auf der Welt wohnen wolle. Sie würde dort ersticken. Auf ihrem Dorf stehe sie in aller Ruhe um fünf in der Früh auf, trinke ihren Kaffee und gehe dann raus in den lieben Gemüsegarten, sagt sie. Und das sei jedesmal wie eine neue Geburt. Sie merkt nicht, dass ich ihre Rede heimlich aufnehme. Wieder habe ich ein schlechtes Gewissen.
Mein Zug Nr. 630 kommt pünktlich morgens um 10:44 Uhr im noch winterlichen Astapowo an. Wir hatten verabredet, dass ich mich in den Wartesaal setze, wo mich Raissa Nikolajewna abholen würde. Ich will mich gerade auf einer Bank niederlassen, da kommt sie schon – eine kleine rundliche Frau um die fünfzig mit rot gefärbten Haaren. Tolstoi habe ebenfalls hier in diesem Wartesaal gesessen, bis im Häuschen des Bahnhofsvorstehers Osolin ein Zimmer für ihn hergerichtet worden sei, erzählt sie. Denn seine Ankunft war ja unvorhergesehen.
„Die Damen kamen angerannt, um den großen Tolstoi zu sehen. Sie stellten sich vor die Spiegel und brachten ihre Frisur in Ordnung. Nach einer halben Stunde wurde Tolstoi abgeholt. Der Arzt Doktor Makovický und die Tochter führten ihn am Arm zum Haus des Bahnhofsvorstehers. In der Menschenmenge wurde eine Stimme laut: ‚Man soll ihn nicht am Arm führen, sondern auf Händen tragen!‘
Der Graf, so berichtet sie mir, hatte sein Haus in Jasnaja Poljana heimlich des Nachts verlassen. Er hinterließ einen Brief, in dem er seiner Familie mitteilte, dass er das Ende seines Lebens in Einsamkeit verbringen möchte. Für Tolstois Frau Sofia Andrejewna war diese prosaische Mitteilung ein schwerer Schlag. Ein Eintrag in ihrem Tagebuch: „ Am 28. Oktober hat sich Lew Nikolajewitsch um fünf Uhr in der Frühe heimlich aus dem Haus gestohlen. Anlass zu seiner Flucht war angeblich, dass ich nachts in seinen Papieren gewühlt hätte … In seinem Brief an mich (für die ganze Welt) nennt er als Begründung für die Flucht unser Leben im Luxus. Als ich von Lew Nikolajewitschs Flucht erfuhr, warf ich mich verzweifelt in den Teich. Sascha und Bulgakow haben mich herausgezerrt. Leider.“
Diese Flucht im 82. Jahr seines Lebens hatte Tolstoi schon einige Wochen vorher geplant. Anfang Oktober 1910 besuchte ihn ein treuer Anhänger, der Bauer Michail Nowikow. Beide gingen im Park von Jasnaja Poljana spazieren. Nowikow stammte aus einem Dorf unweit des Tolstoischen Landgutes. Er lud Tolstoi ein, ihn doch einmal zu besuchen: „Sie haben schon einige Male versprochen, zu mir zu kommen, es aber immer vergessen.“ Tolstoi war sofort einverstanden: „Vortrefflich, jetzt bin ich frei und kann jeden Augenblick mein Versprechen halten. Damals war in der Familie eine strenge Zeit, heute aber haben wir Konstitution, ich habe mit den Meinen geteilt, oder, wie nennt man das bei euch … Ich glaube: von der Familie weggehen. Jetzt bin ich hier überflüssig, wie bei euch die Greise, wenn sie einmal meine Jahre erreichen, und deshalb auch vollständig frei sind … Ja, ja, glauben Sie es nur, ich werde nicht in diesem Hause sterben. Ich habe beschlossen zu fliehen, an einen unbekannten Ort, wo mich niemand kennt. Wer weiß, vielleicht komme ich geradewegs in Ihre Hütte zum Sterben … Sie übernachten doch bei uns? Es ist schon spät und dunkel draußen.“
Nowikow erinnerte sich später an diese Nacht: „Ich lag schon im Bett und war im Begriff einzuschlummern, als ich neben mir leichte Schritte vernahm. Ich erkannte Lew Nikolajewitsch im Halbdunkel und hätte ihn beinahe für ein Gespenst gehalten, so leicht und lautlos waren seine Schritte. Er setzte sich zu mir ans Bett und sagte: ‚Ich komme nur für eine Minute zu Ihnen. Ich freue mich, dass Sie noch nicht schlafen. Ich habe vorhin die Empfindung gehabt, dass ich nicht die Wahrheit sagte, als ich Ihnen erklärte, warum ich Sie weder damals noch jemals später besucht habe. Ich habe es doch nie vor Ihnen geheim gehalten, dass ich in diesem Hause siede wie in der Hölle und immer daran gedacht und mich gesehnt habe, irgendwohin zu fliehen, in den Wald, als Wächter, oder ins Dorf, als Tagelöhner, wo wir einander helfen könnten; doch hat mir Gott nicht die Kraft verliehen, mit meiner Familie zu brechen.‘
Zwei Wochen später erhielt ich einen Brief von Tolstoi, der mich gleichzeitig freute und traurig machte:
‚Jasnaja Poljana, 24. Oktober 1910. Michail Petrowitsch! Wenn es wirklich so weit kommen sollte, dass ich zu Ihnen fahre, könnten Sie mir dann nicht in Ihrem Dorfe eine wenn auch kleine, aber alleinstehende und warme Hütte ausfindig machen? Ich würde Sie und Ihre Familie nur kurze Zeit belästigen. Ich erwarte Ihre Antwort und drücke Ihnen freundschaftlich die Hand. Lew Tolstoi.‘ “
Der Bauer Michail Nowikow hat Tolstoi nie wieder gesehen. Im Zug wurde der flüchtende alte Mann sehr krank, er bekam hohes Fieber und Husten. Passagiere erzählten dem Arzt, dass in Astapowo eine gute Apotheke sei. Dort könne man dem Kranken bestimmt helfen. Und so stiegen Tolstoi, sein Arzt und seine Tochter Alexandra vor dem eigentlichen Reiseziel, dem Kloster Schamordino, wo Tolstois Schwester lebte, schon in Astapowo aus. Der kleine unbekannte Ort sollte zum Zentrum eines Welt-Ereignisses werden.
Raissa Nikolajewna hat mir aus der Museums-Bibliothek eine uralte Ausgabe mit den 1500 Telegrammen anvertraut, die während Tolstois Aufenthalt in Astapowo abgingen oder ankamen. Der Telegraphist soll am Ende vor Erschöpfung zusammengebrochen sein. Die ganze Welt hatte von Tolstois Flucht und Krankheit erfahren. Hier einige prominente Stimmen:
London. Die Flucht Tolstois in die Welt ist eine seiner folgerichtigsten Handlungen. George Bernard Shaw.
Kristiania. Im 83. Jahr, nach einer genial erfüllten Arbeit, fand Tolstoi die Möglichkeit, die Welt zu verlassen. Ich, im 62. Jahr, bin ebenfalls bei der erst besten Gelegenheit dazu bereit. August Strindberg.
Tolstois geistiger Schüler Mahatma Gandhi soll in tiefe Trauer gefallen sein.
Kurz nach Tolstois Ankunft erschien auf der Bahnstation die Geheimpolizei. Die Flucht des weltbekannten Schriftstellers kam den staatlichen Behörden nicht geheuer vor. Dabei war Tolstoi der friedlichste Mensch von der Welt, er predigte Gewaltlosigkeit. Sie waren hinter ihm her wie hinter einem Revolutionär. Denn mit seinen letzten Schriften – den Essays und dem Roman „Auferstehung“ – hatte er mehr Unruhe gestiftet und war für den Staat gefährlicher als alle Revolutionäre zusammen.
Raissa Nikolajewna geht mit mir dieselben 15 Meter über die Gleise zum Häuschen des Bahnhofsvorstehers, die Tolstoi vor hundert Jahren auf schwachen Beinen zurücklegte. Das schöne, rote, typisch russische Holzgebäude ist heute Tolstoi-Museum. Vor einigen Jahren waren sogar Filmleute aus Hollywood hier, erfahre ich. Sie haben fotografiert und gefilmt und wollten zu den Dreharbeiten nach Astapowo kommen, aber sie haben nie wieder etwas von sich hören lassen.
Fünf Frauen sind im Museum beschäftigt. Das ist so eine Art russische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Allerdings verdienen sie sehr wenig Geld, es reicht gerade zum Leben. Immerhin müssen die Frauen nicht traurig zu Hause sitzen, sondern können gemeinsam Tee trinken, wenn keine Besucher da sind. [Bildnis am Anfang dieser Leseprobe: Museumsteam in Astapowo 2010 – Aufnahme: Antje Leetz.]
Raissa Nikolajewna singt Oden, wenn sie von Tolstoi und dem Bahnhofsvorsteher Osolin erzählt. Ihre häufigsten Zuhörer sind Kinder. Ich sehe sie überall im Haus herumflitzen. In die Herzen dieser kleinen Menschen will Raissa das „Vernünftige, Gute, Ewige“ säen. Eine typische russische Museumsfrau. Ich glaube, sie kennt jeden Satz des Schriftstellers auswendig.
Tolstois Zimmer zu betreten, ist streng verboten. Nur einmal im Monat wird vorsichtig Staub gewischt. Der gute Osolin hat alles so gelassen, wie es war, als Tolstoi hier lag. Selbst die Tapeten sind hundert Jahre alt. Raissa Nikolajewna erzählt mit Ehrfurcht von Marfuscha, der Kinderfrau der Osolins, die Tolstois Zimmer sauber hielt.
„Sie wischte den Boden, heizte den Ofen. Da sehen Sie ihn in der Ecke. Lew Nikolajewitsch unterhielt sich oft mit ihr, er fragte sie, warum sie nicht zu Hause bei ihrem Vater lebt, warum sie hier bei den Osolins arbeitet. Da musste ihm Marfuscha erzählen, dass ihre Familie arm ist. Für ihre Mühen, dafür, dass sie den Boden wischte – und Lew Nikolajewitsch bemerkte sogar eine Staubflocke und zeigte sie ihr, und Marfuscha wischte sie schnell weg –, für ihre Mühe schenkte ihr Lew Nikolajewitsch drei Rubel. Das war damals ganz schön viel Geld. Marfuscha hütete diese drei Rubel wie ihren Augapfel, und später bekannte sie, als sie bereits uralt war und die Museumsleute sie befragten – 95 Jahre hat sie gelebt –, da sagte sie, dass sie sehr bedauert, diese drei Rubel in der Küche in einem Krug versteckt zu haben, denn sie seien auf rätselhafte Weise verschwunden.“
Raissa Nikolajewna meint, dass es für Tolstoi eigentlich ein Glück war, hier in diesem kleinen Haus zu sterben: „Astapowo ist nur einer der vielen kleinen verlorenen Bahnhöfe, von denen es Tausende in Russland gibt. Es war Zufall, dass Tolstoi gerade auf unserer Station ausstieg, da er schwer krank war. Aber kein Zufall ist, dass er im Volk war, im Herzen Russlands. Unter einfachen Menschen, die ihn liebten und die er liebte. Er verschmolz mit der Volksmenge, die dann vor diesem Haus stand, um sich von ihm zu verabschieden, als sein Leichnam zum Zug getragen wurde. Er war angekommen.“
Ich trinke mit den Museumsmitarbeiterinnen Tee. Wir essen dazu das Konfekt, das ich ihnen mitgebracht habe – Weinbrandkirschen aus Delitzsch. Sie erfahren von mir, dass ich aus der ehemaligen DDR komme und in einem Verlag gearbeitet habe, der sowjetische Literatur herausgegeben hat. Unser Verhältnis wird vertrauter. Sie erzählen mir, dass viele Gruppen aus der DDR ins Museum gekommen seien, vor allem Jugendgruppen und Arbeitskollektive. Raissa Nikolajewna holt das alte Gästebuch, um es mir zu beweisen. Dort lese ich einen Eintrag aus dem Jahr 1985, der mich berührt. Ich habe ihn in mein Notizheft, das ich während der Tolstoi-Reise führte, abgeschrieben:
„Im Namen einer Gruppe von Spezialisten aus der Deutschen Demokratischen Republik, die anläßlich des großen Feiertages des Sieges der Sowjetarmee über den Hitlerfaschismus im Nowolipezker Matallurgischen Kombinat Juri Andropow in Lipezk weilte, hatten wir Gelegenheit, uns mit dem großen Werk Tolstois in diesem Museum bekannt zu machen. Seine Werke sind auch in der Deutschen Demokratischen Republik sehr beliebt und bekannt und geben uns sehr viel für die Erziehung der Menschen, für die Erziehung aller zu sozialistischen Persönlichkeiten. Im Namen der Gruppe der Spezialisten aus dem Gaskombinat Schwarze Pumpe des Bezirks Cottbus in der DDR.“
11.5.1985 und die Unterschrift, die ich nicht entziffern konnte.
Die Städte Cottbus und Lipezk (die Bezirksstadt von Astapowo) waren Partnerstädte, erfahre ich von den Museumsleuten. Und diese Partnerschaft besteht bis heute.
Nach unserer Teestunde begleitet mich Raissa Nikolajewna durch einen wunderschönen Park mit alten Bäumen zum Hotel „Berjoska“, „Birke“, wo sie mir ein Zimmer reserviert hat. Solche Hotels kenne ich aus der DDR. Ich könnte wetten, dieses hier wurde von DDR-Bauarbeitern errichtet.
In meinem Notizheft finde ich folgenden Eintrag:
16. April 2010. Das Hotel, in dem ich wohne, ist leider sehr heruntergekommen. Aber man sieht noch, dass sich hier vor vielen Jahren DDR-Bauarbeiter bemüht haben, eine passende Architektur für den Ort zu finden, die mit den Kiefern harmoniert. Im Zimmer ist es hundekalt, denn die Heizung wurde mit Blick auf den Sommer planmäßig am 15. April abgestellt, komme was wolle. Ich werde mich natürlich erkälten. Zu allem Unglück wäre ich auch fast noch von der herunterfallenden Gardinenstange erschlagen worden. Als ich das der Administratorin verkündete, zuckte sie nur verständnislos mit den Schultern: Sie leben doch noch! Ich sag’s ja, in Russland glaubt man den Tränen nicht. Aber ich habe mich weder erkältet, noch bin ich erschlagen worden. Ich habe die schönsten Eindrücke von Astapowo. Der Ort sieht gepflegt und recht modern aus, mit vollen Einkaufsläden, dem kleinen Restaurant „Rai“ (Paradies), in dem traumhafte, sehr preiswerte kaukasische Gerichte gekocht werden. Dorthin gehe ich zum Mittagessen – kaukasisches Lammfleisch im Töpfchen. Ein Internet café gibt es auch. Die Hauptstraße, auf der all dieser Reichtum zu finden ist, heißt „Kommunistitscheskaja“ – Kommunistische Straße. Interessante Mischung.
Als Tolstoi am 20. November 1910 auf dem Eisenbett des Bahnhofvorstehers Osolin gestorben war und sein Leichnam nach Jasnaja Poljana überführt wurde, versammelten sich in Petersburg und Moskau zig Tausende auf dem Bahnhof. Sie wollten nach Jasnaja Poljana fahren, um ihrem Idol das letzte Geleit zu geben. Tolstois Leichnam war von Astapowo dorthin überführt worden. In der Hauptsache waren das Studenten und Arbeiter. Nur wenige Züge durften losfahren. Die Menschen wurden zurückgehalten. Die Polizei fürchtete eine politische Demonstration am Grab. Tolstoi hatte darauf bestanden, ein nicht-kirchliches Begräbnis zu erhalten. Das kam in dieser Zeit nur sehr selten vor in Russland.
Damals waren die Erwartungen, die an einen russischen Schriftsteller gestellt wurden, sehr groß. Von Tolstoi erhoffte man sich nicht weniger als eine Rettung.
Interessant, was aus dem Bahnhofsvorsteher Osolin geworden ist, der Tolstoi so großherzig aufnahm. Er wurde Tolstoianer und pilgerte wie der große Alte durch Russland. Was für ein Schicksal! Stellt euch vor, ihr lebt ganz geruhsam in eurem Haus, im Kreis der Familie, geht eurer Arbeit nach und seid auf keinerlei besondere Ereignisse eingestellt, und da kommt eines schönen Tages der berühmte Lew Tolstoi herein, der Autor von „Krieg und Frieden“, legt sich in euer Bett und stirbt. Das ist doch wohl ein Grund, vom gewohnten Weg abzukommen …
Als ich aus Astapowo wieder heim nach Moskau kam, fragte ich im dortigen Tolstoi-Museum nach, ob sie nicht vielleicht Tonaufnahmen mit Tolstois Stimme in ihrem Archiv hätten. Viel Hoffnung hatte ich nicht. Aber zu meinem Erstaunen verabredete sich sofort eine junge Mitarbeiterin mit mir auf der Metrostation Kropotkinskaja, wo sie mir eine CD schenkte, auf der die Stimme des Schriftstellers aufgezeichnet war. Für den Schluss meiner Radiosendung wählte ich eine kleine Ansprache aus, die Tolstoi an die Bauernkinder von Jasnaja Poljana gerichtet hatte, die er unterrichtete. Diese Kinder waren im Haus erschienen und baten ihren Lehrer, ihnen den „sprechenden Apparat“ vorzuführen, den der berühmte englische Erfinder Edison ihm geschenkt hatte. Tolstoi zeichnete seine Worte auf und die Kinder hörten mit offenem Mund zu, als er ihnen das Ergebnis vorspielte: „Danke, Kinder, dass ihr zu mir kommt. Ich bin froh, wenn ihr gut lernt. Nur macht bitte nicht so viel Unfug. Denn es gibt solche, die nicht hören und nur Unfug treiben. Was ich euch sage, werdet ihr einmal brauchen. Wenn ich schon nicht mehr bin, werdet ihr euch daran erinnern, dass der Alte euch et was Gutes beigebracht hat. Lebt wohl.“
Eigentlich wollte ich das Feature mit der Geschichte von den Ameisenbrüdern beenden, die ich so liebe. Sie stammt aus Tolstois Buch „Kindheit“. Aber wie so oft konnte sie aus Zeitgründen nicht aufgenommen werden. Hier ist sie:
„Eines Tages erklärte unser ältester Bruder Nikolenka, er habe ein Geheimnis, durch das, sobald es aufgedeckt werde, alle Menschen glücklich sein könnten; alle würden einander lieben und Ameisenbrüder werden. Er meinte wohl die ‚mährischen Brüder‘, von denen er gehört oder gelesen haben mochte – Murawia (Mähren). Wir aber kannten dieses Wort nicht und dachten an ‚murawej‘ – Ameise – und sagten ‚Ameisenbrüder‘. Das Geheimnis der Ameisenbrüder, so sagte uns Nikolenka, sei von ihm auf ein grünes Stäbchen geschrieben worden, dieses Stäbchen aber sei am Rande des Abhangs beim alten Sakas verborgen (an der Stelle, wo ich, da man doch irgendwo begraben werden muss, gebeten habe, mich zum Gedächtnis an Nikolenka beizusetzen). Das Ideal der Ameisenbrüder, die sich liebevoll aneinanderschmiegen und deren Bund alle Menschen umfasst, ist für mich noch das Gleiche geblieben. Und wie ich damals daran glaubte, dass es ein grünes Stäbchen gibt, auf dem das Geheimnis geschrieben steht, wie man das Böse im Menschen vernichten und ihm das Heil bringen kann, so glaube ich auch jetzt, dass es diese Wahrheit gibt, und dass die Menschen sie entdecken werden.“
Ob Tolstoi noch dieses Glaubens gewesen wäre, hätte er gewusst, dass zwei Weltkriege bevorstehen, der eine schrecklicher als der andere? Ich frage mit Bitternis: Hätte sein Glaube an das „grüne Stäbchen“ diesem Inferno standgehalten? Oder der noch schrecklicheren Bedrohung der Menschheit in der heutigen Zeit angesichts der vielen apokalyptischen Kriege und Umweltzerstörungen?
Buchquelle dieser Leseprobe ǀ Antje Leetz: Der schwarze Stein aus Tschechows Garten. Meine schmerzliche Liebe zu Russland. Gransee: Edition Schwarzdruck 2024. [ISBN: 978-3-96611-036-5; 316 Seiten; 25 Euro]. Verlagsseite zum Buch
Über die Autorin ǀ Antje Leetz, geboren am 9. Mai 1947 im zerstörten Frankfurt/Main, 1957 Übersiedlung mit der Mutter und Schwester in die DDR. 1965 bis 1970 Studium der Germanistik und Slawistik an der Humboldt-Universität Berlin, von 1970 bis 1985 Lektorin für neue russische Literatur im Verlag Volk und Welt Berlin, von 1985 bis 1988 – in der Zeit von Glasnost und Perestroika – Redakteurin am Progress-Verlag in Moskau. 1988 Rückkehr in die DDR. Seit dieser Zeit freiberuflich tätig: Herausgeberin bzw. Übersetzerin von Sergej Samjatin, Jelena Bulgakowa, Bulat Okudshawa, Irina Ehrenburg, Ljudmila Petruschewska, Daniil Granin u.a., Autorin von Radiofeatures für verschiedene deutsche Rundfunkstationen, zum Beispiel über Nikolai Gogol, Lew Tolstoi, Anton Tschechow, Alexandra Kollontai, Boris Pasternak, Maxim Gorki, Michail Bulgakow, über deutsche Architekten unter Stalin, junge Linke im heutigen Russland … 2009 erschien das Wodka-Buch „Sto Gramm“ unter dem Pseudonym Iwan Wodkin, 2021 „Marischa. Mehr als ein Wunder. Eine Überlebensgeschichte. Aufgezeichnet von Antje Leetz“.