Ein Überblick zu den antimilitaristischen und pazifistischen Schriften des russischen Dichters entlang der Themenbände in der Tolstoi-Friedensbibliothek. – Die nachfolgend aufgeführten 5 Antikriegs-Werke erschließen erstmals gebündelt alle Wortmeldungen Tolstois wider die militärische Heilslehre aus dem Feld seiner sozialkritischen, religiösen und philosophischen Traktate.
Vor purem Blödsinn ist die Kriegspropaganda – gleich welcher Seite – noch nie zugeschreckt. Im April 2022 wollte die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko dem Dichter Leo N. Tolstoi (1828-1910) allen Ernstes so etwas wie eine geistige Mitschuld am russischen Krieg gegen die Ukraine in die Schuhe schieben. Im Deutschlandfunk stellte der Schriftsteller Mathias Greffrath zeitnah klar, dass diese „These“ nur als Unfug aufgefasst werden kann. Das strittige Tolstoi-Fragment „Es gibt keine Schuldigen auf der Welt“ (Textzugang) hatte Oksana Sabuschko offenkundig nur assoziativ, dem Titel nach zur Kenntnis genommen – und wohl auch sonst damit gerechnet, dass Tolstois Werke von niemandem mehr gelesen werden.
Vor dem Ersten Weltkrieg galt der russische Dichter, der auch Gandhi inspirierte, weltweit als der bedeutsamste Botschafter des Friedens. Auch deshalb gibt es für den deutschsprachigen Raum die Anfang 2023 von Pazifisten eröffnete Tolstoi-Friedensbibliothek – mit bislang über vierzig Bänden. Nachdem an anderer Stelle schon eine Orientierung zu den sozialkritischen Schriften zu lesen war, ist der hier gebotene Überblick nützlich für Leute, die erwägen, sich eingehender mit Tolstois Traktaten gegen den Krieg zu befassen, und nach der für sie passenden Lektüre suchen.
Die nachfolgend aufgeführten Bücher erschließen nahezu vollständig die antimilitaristischen und pazifistischen Schriften des berühmten Russen. Sie sind alle zuerst in der Digital-Bibliothek unseres friedensbewegten Kulturprojektes erschienen, wo die Internetfassungen auch frei aufgerufen werden können. Wir greifen in unseren Editionen zurück auf gemeinfreie Übersetzungen und freuen uns über alle Weggefährt*innen, die Texte aus dem umfangreichen Angebot auch bei eigenen Friedensunternehmungen heranziehen.
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1. Das Reich Gottes in Euch:
Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht (1893)
Mit seinen religiösen und sozialkritischen Schriften erreichte Leo N. Tolstoi schon zu Lebzeiten eine Leserschaft auf dem ganzen Globus. Die aus Russland kommende Botschaft der Gewaltfreiheit inspirierte viele Menschen zu einem neuen Weg der Befreiung. Sie hat zeitweilig sogar die „Weltgeschichte“ mit verändert. Über das hier vorgestellte Werk aus dem Jahr 1893 vermerkt der Inder Mohandas Karamchand Gandhi in seiner Autobiographie: „Tolstois ‚Das Reich Gottes ist inwendig in euch‘ überwältigte mich. Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrheitsliebe dieses Buches schienen alle mir von Mr. Coates (einem befreundeten Quäker) gegebenen Bücher zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen.“
Jetzt liegt nach über hundert Jahren wieder eine ungekürzte Neuauflage dieses Klassikers vor, der noch immer zur „pazifistischen Pflichtlektüre“ zählt. Der Übersetzer Raphael Löwenfeld berücksichtigte 1894 in der ersten deutschen Ausgabe als Zusatz einen ursprünglich vom Verfasser selbst erwogenen Titel: „Christi Lehre und die allgemeine Wehrpflicht.“ Es geht nicht um harmlose Erbauungsliteratur, sondern um die Wiedergewinnung eines subversiven Christentums, das keinen Pakt mit den Mächtigen eingeht und die herrschenden Besitzverhältnisse nicht segnet. Auch subversive historische Schriften und jüngere Zeugnisse aus Nordamerika werden von Tolstoi herangezogen. Im Zentrum steht eine Fundamentalkritik von staatlicher Gewalt, Krieg und Militarismus:
„Fälle der Verweigerung der Erfüllung staatlicher Forderungen, die dem Christentum widersprechen, besonders Verweigerungen des Militärdienstes, kommen in letzter Zeit nicht nur in Russland, sondern überall vor. … Die Sozialisten, die Kommunisten, die Anarchisten mit ihren Bomben, Aufständen und Revolutionen sind den Regierungen lange nicht so gefährlich, wie diese vereinzelten Menschen … Die revolutionären Feinde kämpfen von außen mit der Regierung. Das Christentum aber … erschüttert von innen alle Grundlagen der Regierung.“
Leo N. Tolstoi: Das Reich Gottes ist in Euch. Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht, übersetzt von Raphael Löwenfeld, 1894. (= Tolstoi-Friedensbibliothek A009). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN: 9783748121657; 364 Seiten; 14,90 €).
Zusätzlich zu dieser preiswerten Paperback-Ausgabe gibt es auch noch eine Buchfassung mit festem Einband (Hardcover).
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2. Staat – Kirche – Krieg (1879-1909)
Im Jahr 1900 wendet sich der Russe Leo N. Tolstoi mit folgendem Wort an seine Menschengeschwister auf dem ganzen Globus: „Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft.“ Patriotismus ist in seinen Augen Sklaverei – ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden.
Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem ein Kirchengebäude, welches die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und das Töten im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt. Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen „christlichen“ Institutionen ohne Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden.
Der thematische Sammelband „Staat – Kirche – Krieg“ enthält u.a. folgende Schriften Tolstois zu diesem todbringenden Komplex: Ernste Gedanken über Staat und Kirche (Cerkov‘ i gosudarstvo, 1879) – Patriotismus und Christentum (Christianstvo i patriotizm, 1894) – Sinnlose Hirngespinste (Bessmyslennye mectanija, 1895) – Patriotismus oder Frieden (Patriotizm ili mir?, 1896) – Cathargo delenda est (1898) – Patriotismus und Regierung (Patriotizm i pravitel’stvo, 1900) – Muss es denn wirklich so sein? (Neuzeli eto tak nado?, 1900) – Eines ist not (Edinoe na potrebu, 1905) – Es ist Zeit, zu begreifen (Pora ponjat‘, 1909).
Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt Tolstoi zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums: Erst „wenn diese falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und … jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören.“
Leo N. Tolstoi: Staat – Kirche – Krieg. Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B002). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN: 9783734763014; 320 Seiten; 12,99 €).
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3. Das Töten verweigern (1885-1906)
Dieser Sammelband erschließt unter Berücksichtigung des dichterischen Werks die kleineren Schriften Tolstois über die Verweigerung des Mordhandwerks, darunter „Denkzettel“ zur Verbreitung des Ungehorsams unter Soldaten, ein 2022 von ukrainischen und russischen Pazifisten wieder herangezogener Bühnentext, sowie Darstellungen zur Geschichte der Gegner des Militärdienstes in Russland: „Wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen.“ (1901) Nach der russischen Revolution 1917 wurde die Ablehnung jeglicher Waffengewalt durch die Tolstojaner zunächst respektiert, doch schon bald mussten viele Kriegsdienstverweigerer ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlen.
In seinem Geleitwort zur Biographie des nach Gefängnisqualen umgekommenen Waffenverweigerers Jewdokim Nikitschitch Droschin (1866-1894) schreibt Tolstoi: „Wir sehen, dass Obrigkeiten, die sich für christlich halten, bei jeder Gelegenheit gegen Menschen, die sich weigern zu morden, in der offenkundigsten und feierlichsten Weise gezwungen sind, jenes Christentum und jenes sittliche Gebot zu verleugnen, auf welches sich ihre Gewalt allein stützt. … Früher hatte … nur selten jemand das Evangelium gelesen und die Leute kannten nicht dessen Geist, sondern glaubten alles, was ihnen die Priester sagten; aber auch schon früher … hielten manchmal strenggläubige Menschen, die man Sektierer nannte, den Militärdienst für eine Sünde und weigerten sich, ihn zu leisten. Jetzt … gibt es keinen Menschen, der nicht verpflichtet wäre, bewusst mit seinem Geld, und im größten Teile Europas unmittelbar an den Vorbereitungen zum Mord oder am Mord selber teilzunehmen; jetzt kennen fast alle Menschen das Evangelium und den Geist der Lehre Christi, alle wissen, dass viele Priester bestochene Betrüger sind … jetzt ist es bereits so weit gekommen, dass nicht Sektierer allein, sondern Leute, die keine besonderen Dogmen bekennen …, sich weigern zu dienen und … offen erklären, dass die Menschentötung mit keinem Bekenntnis des Christentums zu vereinigen ist.“
Tolstois Ruf zur Verweigerung fand ein Echo in vielen Ländern. (Zwei die Auswahl des Bandes ergänzende Zeugnisse aus den Jahren 1896 und 1899 haben wir inzwischen in diesem Lesesaal eingestellt.)
Leo N. Tolstoi: Das Töten verweigern. Texte über die Schönheit der Menschen des Friedens und den Ungehorsam. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B003). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN 9783751919258; 292 Seiten; 12,90 €).
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4. Wider den Krieg (1899-1909)
Der Sammelband „Wider den Krieg“ erschließt ausgewählte pazifistische Betrachtungen und Aufrufe von Leo N. Tolstoi, u.a. einen Brief zu den Kämpfen im Transvaal vom Dezember 1899, ein Wort zum Russisch-Japanischen Krieg (Besinnt euch!, 1904) und eine Schrift über „Die Annexion Bosniens und der Herzegowina“ (1908).
In Briefzeilen an ihren engsten Mitstreiter meinte Bertha von Suttner 1909, der russische Dichter sei doch „eigentlich der Konsequenteste aller Kriegshasser“. Dessen Distanz zur bürgerlichen Friedensbewegung mit ihren Versammlungen und staatstragenden Forderungskatalogen lag offen zutage. Im gleichen Jahr verfasste Tolstoi eine Rede, die er auf dem Internationalen Friedenskongress in Stockholm halten wollte:
„Die Menschheit … ist zu einem so schroffen Widerspruch zwischen ihren sittlichen Forderungen und der bestehenden Gesellschaftsordnung gelangt, dass unbedingt eines geändert werden muss, … was wohl geändert werden kann: die Gesellschaftsordnung. Diese Änderung, die der innere Widerspruch gebietet, der in der Vorbereitung zum Morde besonders scharf zu Tage tritt, wird … von Tag zu Tag immer dringender. Die Spannung, die diese bevorstehende Änderung seit langem erzeugt, hat heute schon einen solchen Grad erlangt, dass … es zum Übergang aus jenem grausamen und unvernünftigen Leben der Menschen mit seiner Absonderung, seinen Rüstungen und Armeen, zu einem vernünftigen, den Forderungen der Erkenntnis der jetzigen Menschheit entsprechenden Leben möglicherweise nur einer geringen Anstrengung, vielleicht nur eines Wortes bedarf. … So, wie im Märchen Andersens, als beim feierlichen Umzuge der König durch die Straßen der Stadt ging, … das Wort eines Kindes, das aussprach, was alle wussten …, alles geändert hat: Er hat ja gar nichts an. … Die Menschen werden … aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst, den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden sehen, was da ist: die nackte frevelhafte Mordtat.“
Thomas Mann meinte 1928 – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: „Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.“
Im Rückblick erst verstehen wir den Tagebucheintrag des russischen Friedensbotschafters vom 27. Dezember 1905: „Ich bin wie jener Mann auf dem Tender eines in den Abgrund rasenden Zuges, der entsetzt erkennt, er vermag den Zug nicht zum Stehen zu bringen. Die Fahrgäste hingegen entsetzten sich erst, als die Katastrophe geschehen war.“
Leo N. Tolstoi: Wider den Krieg. Ausgewählte pazifistische Betrachtungen und Aufrufe 1899–1909. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B004). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN: 9783753479620; 212 Seiten; 9,90 €).
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5. Das Gesetz der Gewalt und die Vernunft der Liebe (1884-1910)
Dieser thematische Sammelband erschließt Schriften und Briefzeugnisse Leo Tolstois über die Weisung „Bekämpft nicht Böses mit Bösem“, die er neben dem grundlegenden Werk „Das Reich Gottes ist in euch“ (1893) und im Anschluss an dieses verfasst hat – darunter: „Das Gesetz der Gewalt und das Gesetz der Liebe“ (1908), den „Brief an einen Hindu“ (1908) sowie seinen Austausch mit Mahatma Gandhi (1909/10). Den ethischen Traktaten (Sprache der Moral) ist die „Sprache der Weisheit“ zur Seite gestellt: „Jede Gewalt widerstrebt der Vernunft und der Liebe. Nehme keinen Anteil an ihr.“
Die Kritiker werfen dem Liebhaber der Bergpredigt vor, sich hinsichtlich der Verbrechen und Leiden in der Geschichte bequem auf eine Zuschauerrolle zurückzuziehen (Tatenlosigkeit, Weltflucht etc.). Im Fall von Tolstoi wirkt ein solcher Vorwurf geradezu absurd, wenn man bedenkt, wie dieser sich über Jahrzehnte hin – förmlich bis hin zur Todesstunde – gegen Todesstrafe, Krieg, Hungersnot, Repressionsapparate und soziales Unrecht engagiert hat.
Die Anhänger des Gewalt-Aberglaubens müssen sein Verständnis des „Nichtwiderstrebens“ mutwillig verzerren, um von Passivität und fehlender Anteilnahme sprechen zu können. Schon im April 1890 schreibt Tolstoi darüber: „Man verwechselt (absichtlich, wie es mir scheint) das Wort ‚Widersetze dich nicht dem Bösen durch Böses‘ mit ‚Widersetze dich nicht dem Bösen‘, d.h. mit ‚Sei gleichgültig dem Bösen gegenüber‘. Während der Kampf gegen das Böse das einzige Ziel des Christentums ist, und das Gebot vom ‚dem Bösen nicht widerstreben‘ als das wirksamste Kampfmittel gegeben ist.“
Ohne Hinwendung zur Gewaltfreiheit gibt es Tolstoi zufolge für die menschliche Familie keine Zukunft: „Begreift, dass die Erfüllung des von uns erkannten höchsten Gesetzes der Liebe, das die Gewalt ausschließt, zu unserer Zeit für uns ebenso unvermeidlich ist, wie es für die Vögel unvermeidlich ist, umherzufliegen und Nester zu bauen.“ (Die interreligiösen Dimensionen erhellt eine Anthologie „Begegnung mit dem Orient“, die ebenfalls als Neuedition der Tolstoi-Friedensbibliothek vorliegt).
Leo N. Tolstoi: Das Gesetz der Gewalt und die Vernunft der Liebe. Texte über die Weisung, dem Bösen nicht mit Bösem zu widerstehen. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B005). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN 9783755717515; 312 Seiten; 12,99 €).
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Eine Zusammenstellung zu allen bisher erschienenen Bänden (mit freiem Zugang zu den Internetausgaben) und weiterführende Informationen bietet dieses Portal der Tolstoi-Friedensbibliothek in den Menüpunkten "Digitalbibliothek" und "Buchreihe".
In einer umfangreicheren Version dieses Überblicks zu den pazifistischen und antimilitaristischen Schriften Tolstois werden auch die Dichterischen Werke (Tolstoi-Friedensbibliothek, Reihe C) mit einbezogen.
Illustration oben: Tolstoi im Gespräch, 1909. Bildquelle wikimedia.org