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Soldatenartikel

(Denkzettel für Soldaten: Soldatskaja pamjatka, 1901)

„Darum fürchtet euch nicht vor ihnen. Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und ist nichts heimlich, das man nicht wissen werde. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht, und was ihr höret in das Ohr, das prediget auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten. Fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben mag in die Hölle.“

(Matthäus-Evangelium 10, 26. 27. 28)

„Petrus aber antwortete und die Apostel und sprachen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

(Apostel-Geschichte 5, 29)

Soldat, du hast schießen, stechen, marschieren gelernt, man hat dich Lesen und Schreiben gelehrt, nach dem Exerzierplatz und zur Truppenschau geführt, vielleicht auch hast du einen Krieg mitgemacht, mit Türken und Chinesen gekämpft und alles ausgeführt, was dir befohlen wurde; es ist dir wohl nie in den Kopf gekommen, dich zu fragen, ob es gut oder böse ist, was du tust.

Da erhält deine Schwadron den Befehl, auszurücken und sich mit Patronen zu versehen. Du fährst oder marschierst ab, ohne zu wissen, wohin man dich führt.

Du kommst an ein Dorf oder eine Fabrik und siehst, daß sich auf einem Platze viel Landvolk oder Fabrikarbeiter drängen, Männer, Mütter mit ihren Kindern, Greise, alte Frauen. Der Gouverneur oder Staatsanwalt treten mit den Polizisten an die Menge heran und scheinen mit ihr zu verhandeln. Erst herrscht finsteres Schweigen, dann aber vernimmt man ein Geschrei, ein Murren, das immer lauter und lauter wird, und die Behörden entfernen sich. Du errätst, daß es aufrührerische Bauern oder Fabrikarbeiter sind, und daß du ausersehen bist, die Ruhe wiederherzustellen. Die Behörde begibt sich wiederholt zu der Menge, um ohne Erfolg zurückzukehren. Immer lauter und lauter wird das Geschrei, die Beamten unterreden sich leise, und jetzt ergeht an dich der Befehl, dein Gewehr zu laden. Du siehst Menschen vor dir, Menschen wie die, aus deren Mitte man dich selbst gerissen hat: Männer in Arbeiterblusen oder Pelzen und Holzschuhen, Frauen mit Tüchern und Jacken, ebensolche Frauen, wie dein Weib oder deine Mutter. Man befiehlt dir, zuerst über die Köpfe der Menge hinwegzuschießen, aber das Volk geht nicht auseinander, sie schreien nur noch lauter, und nun kommt der Befehl, wirklich zu schießen, nicht über die Köpfe hinweg, sondern mitten ins Volk hinein.

Man hat dir eingeredet, du seist nicht verantwortlich für die Folgen deines Schusses, aber du weißt, daß der Mensch, der von deiner Kugel getroffen blutend niedersinkt, durch keinen anderen als durch dich selbst getötet worden ist, daß es in deiner Gewalt stand, nicht zu schießen und daß dieser Mensch dann nicht hätte zu sterben brauchen.

Wie aber hättest du handeln sollen?

Es würde nicht genügen, wenn du dein Gewehr sinken gelassen und dich geweigert hättest, auf deine Brüder zu schießen. Schon morgen kann sich ja dasselbe wiederholen, und daher bleibt kein anderer Ausweg für dich, du magst wollen oder nicht, als dich auf dich selbst zu besinnen und dir die Frage vorzulegen: Was bedeutet dieser Beruf des Soldaten, der dich in die Lage gebracht hat, auf deine wehrlosen Brüder schießen zu müssen!

Im Evangelium heißt es, man dürfe nicht bloß seine Brüder nicht töten, man solle selbst das vermeiden, was den Totschlag herbeiführen kann. Wir sollen unserem Bruder nicht zürnen, und unsere Feinde nicht hassen, sondern lieben. Im mosaischen Gesetz steht ganz einfach: „Du sollst nicht töten“, ohne alle Einschränkung und Rücksicht darauf, wen man töten oder nicht töten dürfe. In den Regeln aber, die du gelernt hast, heißt es, der Soldat sei verpflichtet, jeden Befehl seines Vorgesetzten zu erfüllen, welchen Inhalts er auch sei, es sei denn, es richte sich gegen den König selbst.

Man sagt dir, du seist zum Töten verpflichtet, weil du den Fahneneid geleistet hast, und darum seist auch nicht du selbst für deine Handlungen verantwortlich, sondern deine Vorgesetzten.

Aber ehe du geschworen, d. h. den Menschen versprochen hast, ihren Willen zu erfüllen, hast du auch ohne Fahneneid die Verpflichtung, in allen Dingen Gottes Willen zu erfüllen, Dessen, der dir das Leben gab, – Gott aber verbietet den Totschlag.

Darum hattest du auch nie das Recht, dich eidlich zu verpflichten zur Erfüllung alles dessen, was dir die Menschen befehlen werden. Daher sagt auch das Evangelium ganz allgemein (Matth. 5, 34-37): „Ihr sollt überhaupt nicht schwören. … Eure Rede aber sei: ‚ja, ja, nein, nein.‘ Was darüber ist, das ist vom Uebel.“ Und dasselbe steht im Jacobusbrief Kap. 5, 12: „Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwöret nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde u.s.w.“ Es ist also der Eid selber schon eine Sünde. Jenes aber, was sie dir sagen, daß nämlich nicht du, sondern deine Vorgesetzten für deine Handlungen Rechenschaft ablegen werden, ist eine offenbare Lüge. Oder ist es etwa möglich, daß dein Gewissen nicht in dir selbst, sondern im Gefreiten, Feldwebel, Hauptmann, Obersten oder sonst wem seinen Sitz habe? Es kann kein Mensch für dich entscheiden, was du tun kannst und sollst, und was du unterlassen sollst. Der Mensch ist immer selbst für seine Handlungen verantwortlich. Ist nicht der Ehebruch eine viel geringere Sünde als Mord? Wäre es aber möglich, daß ein Mensch zum andern sagen dürfte: Treibe nur Unzucht, ich nehme deine Sünde auf mich, weil ich dein Vorgesetzter bin?

Wie die Bibel erzählt, soll Adam sich an Gott versündigt und dann zu ihm gesagt haben, sein Weib hätte ihn überredet, vom Apfel zu essen, das Weib aber sagte, der Teufel habe sie verführt. Und Gott hat weder Adam noch Eva entschuldigt, sondern er sagte zu ihnen, er wolle Adam bestrafen, weil er seiner Frau Gehör geschenkt habe, und er vergab ihnen nicht, sondern strafte sie. Sollte Gott nicht dasselbe auch zu dir sagen, wenn du einen Menschen ermordet hast und sagst, dein Hauptmann habe es dir befohlen?

Der Betrug ist schon leicht daran zu erkennen, daß auf die Vorschrift, durch die der Soldat verpflichtet wird, alle Anordnungen seiner Vorgesetzten zu erfüllen, die Worte folgen: „außer solchen, welche dem Wohle den Königs entgegen sind.“

Wenn der Soldat die Pflicht hat, bevor er den Auftrag des Vorgesetzten erfüllt, zu entscheiden, ob dieser sich nicht gegen den König richte, wie sollte er nicht, ehe er den Befehl des Kommandierenden ausführt, prüfen, ob sich dieser nicht gegen Gott, den höchsten Kaiser und König, richtet? Es gibt aber keine Handlung, die dem Willen Gottes mehr widerspräche als der Menschenmord, und daher darfst du den Menschen nicht gehorchen, wenn sie dir befehlen, andere Menschen zu töten. Wenn du aber gehorchst und tötest, so tust du das für dein eigenes Wohl, weil du die Strafe fürchtest. Daher bist du, wenn du auf Befehl deines Vorgesetzten tötest, ebenso ein Räuber wie der, welcher dem Kaufmann auflauert, um ihn zu berauben. Jener hat es auf das Geld abgesehen, du aber nur darauf, der Strafe zu entgehen und belohnt zu werden. Der Mensch ist immerdar allein für sich und seine Handlungen vor Gott verantwortlich.

Keine Gewalt der Erde kann, wie die Anführer es wohl wollen, aus einem lebendigen Menschen eine tote Sache machen, mit der man umgehen kann, wie es uns in den Sinn kommt. Christus hat uns gelehrt daß wir alle Gottes Söhne sind, und daher kann kein Christ sein Gewissen in die Gewalt eines anderen geben, welchen Titel oder Namen er sich auch beilegen mag, ob er sich nun König, Zar oder Kaiser nennt. Daß aber die Menschen, welche dich in ihrer Gewalt haben, von dir den Mord deiner Brüder verlangen, das beweist nur, daß diese Menschen Betrüger sind und daß du ihnen gerade darum nicht gehorchen darfst. Gewiß ist die Lage der Dirne schmachvoll, welche jederzeit bereit sein muß, ihren Leib dem zur Schändung preiszugeben, welchen ihr Herr ihr bezeichnet; aber noch schmählicher ist die Lage des Soldaten, der immer zu dem größten Verbrechen bereit sein muß, zum Morde des Menschen, den ihm sein Vorgesetzter bezeichnet.

Und so, wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen.

So besteht der wahre Soldatenartikel für einen Christen nicht in den folgenden Sätzen: der Soldat hat sich in allen Dingen der Obrigkeit unterzuordnen, und muß jederzeit bereit sein, Fremde und Feinde, aber auch selbst seine eigenen wehrlosen Brüder zu töten, – der wahre Soldatenartikel, das sind die Worte der Schrift, die wir stets im Gedächtnis haben müssen, daß wir Gott mehr gehorchen sollen, als den Menschen, und Die nicht fürchten sollen, welche den Leib töten, aber die Seele nicht mögen töten.

Das ist der einzige, wahre, untrügliche Soldatenartikel

Leo Tolstoi

Textquelle ǀ Leo Tolstoi: An die jungen Leute (Soldatenartikel / Das Ende naht). Übersetzt von Otto Bueck. Zweite Auflage. Steglitz b. Berlin: Verlag Leon Hirsch 1910, S. 2-5. [16 Seiten; die verbotene Erstauflage erschien schon 1905, unter dem Titel „An die Soldaten und die jungen Leute“: Verlag Johannes Holzmann, Berlin-Charlottenburg.] – Texterfassung für die Tolstoi-Friedensbibliothek: Peter Bürger. Ein Dank für die Bereitstellung der Quelle geht an die Gustav Landauer Initiative.

Für die Editionen unserer Tolstoi-Friedensbibliothek wird eine Übersetzung des vollständigen Textes nach der russischen Gesamtausgabe in 90 Bänden (Moskau 1928-1957ff: Polnoe sobranije sočinenij, Band 34, S. 280-283) vorbereitet. Zugang zum russischen Text (Soldatskaja pamjatka, 1901) z. B. hier: http://tolstoy-lit.ru/tolstoy/publicistika/soldatskaya-pamyatka.htm (die beste uns bekannte Übersetzungshilfe: https://www.deepl.com/translator).

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