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Patriotismus oder Frieden?

ПАТРИОТИЗМ ИЛИ МИР? – Patriotizm ili mir?

(Brief, Januar 1896)

Geehrter Herr!
Sie wünschen, ich möchte mich in Bezug auf die Vereinigten Staaten „im Interesse der christlichen Folgerichtigkeit und des wahren Friedens“ aussprechen, und drücken die Hoffnung aus, „daß die Völker sich bald auf das einzige Mittel zur Sicherung des internationalen Friedens besinnen werden“.

Ich hege dieselbe Hoffnung, weil die Verblendung, in der heutzutage sich die Völker befinden, welche den Patriotismus verherrlichen, ihre jungen Generationen im Aberglauben des Patriotismus erziehen, dabei aber die unvermeidlichen Folgen des Patriotismus, die Kriege, zu vermeiden wünschen – wie mir scheint, in jenes äußerste Stadium gelangt sind, in welchem der einfachste, jedem unbefangenen Menschen auf der Zunge liegende Gedanke herbeiführen kann, daß die Menschen einsehen, in welchem schreienden Widerspruch sie sich befinden.

Wenn man die Kinder fragt, welches von zwei unvereinbaren Dingen sie vorziehen, die ihnen beide gefallen, so antworten sie gewöhnlich: Das eine und das andere. Fragt man: „Willst Du Schlittschuh laufen oder zu Hause spielen,“ so lautet die Antwort: „Ich will Schlittschuh laufen und zu Hause spielen.“

Ganz ebenso antworten die christlichen Völker auf die ihnen vom Leben gestellte Frage, was sie vorziehen, den Patriotismus oder den Frieden. Sie antworten: „Den Patriotismus und den Frieden,“ – obgleich es ebenso unmöglich ist, den Patriotismus mit dem Frieden zu vereinbaren, als gleichzeitig auf die Schlittschuhbahn zu gehen und zu Hause zu bleiben.

Vor kurzem erhob sich zwischen den Vereinigten Staaten und England ein Streit wegen der Grenzen von Venezuela. Salisbury war unwirsch, Cleveland schrieb eine Botschaft an den Senat, auf beiden Seiten ertönte Kriegsgeschrei, auf den Börsen entstand eine Panik, Millionen Pfund Sterling und Dollars gingen verloren. Edison sagte, er werde neue Granaten erfinden, mit welchen man in einer Stunde mehr Menschen töten könne, als Attila während aller seiner Kriege, und beide Völker begannen, sich energisch zum Krieg vorzubereiten. Aber vielleicht deshalb, weil gleichzeitig mit diesen Kriegsvorbereitungen, sowohl in England als in Amerika, verschiedene Schriftsteller, Prinzen und Staatsmänner die Regierungen ermahnten, sich des Krieges zu enthalten, weil der Streitgegenstand nicht wichtig genug sei, um einen Krieg anzufangen, besonders zwischen zwei verwandten angelsächsischen Völkern, welche dieselbe Sprache sprechen und einander nicht bekriegen, sondern ruhig über andere Völker herrschen sollten – oder vielleicht deswegen, weil Bischöfe, Erzpriester und niedere Geistliche aller Art in ihren Kirchen um Erhaltung des Friedens beteten, – oder auch deshalb, weil beide Teile sich für noch nicht genügend kriegsbereit hielten, kam es für dieses Mal nicht zum Krieg. Und die Menschen beruhigten sich.

Es gehört wenig perspicacité (Scharfsinn) dazu, einzusehen, daß die Ursachen, welche jetzt den Streit zwischen England und Amerika herbeiführten, dieselben geblieben sind, und daß, wenn auch der jetzige Streit ohne Krieg beigelegt wurde, doch heute oder morgen andere Kriegsfälle zwischen England und Deutschland, England und Rußland, England und der Türkei aus allen möglichen Ursachen entstehen können, wie sie sich alltäglich zeigen, und daß irgend einer dieser Streitpunkte unvermeidlich zum Krieg führen wird.

Wenn zwei bewaffnete Menschen nebeneinander leben, welchen von Kindheit auf eingeredet wurde, daß Macht, Reichtum und Ruhm die höchsten Vorzüge seien, und daß es daher ein ruhmwürdiges Beginnen sei, Macht, Reichtum und Ruhm mit den Waffen zu erwerben, wenn auch zum Nachteil anderer benachbarter Herrscher, und wenn zugleich über diesen Menschen weder eine sittliche, noch religiöse, noch staatliche Macht steht, die sie einschränkt, so ist es klar, daß diese Menschen immer Krieg führen werden, daß das normale Verhältnis zwischen ihnen der Krieg sein wird, und daß, wenn diese Menschen auch zeitweilig von einander ablassen, dies doch nur geschieht, wie der Franzose sagt: „Pour mieux sauter“ – um besser zu springen, das heißt, sie trennen sich, um einen Anlauf zu nehmen und um sich mit vermehrter Wut aufeinander zu stürzen.

Schrecklich ist der Egoismus im gewöhnlichen Leben, aber die Egoisten des Alltagslebens sind nicht bewaffnet und halten es nicht für ruhmwürdig, Waffen gegen ihresgleichen anzuwenden. Ihr Egoismus wird durch die Staatsgewalt und die öffentliche Meinung beschränkt. Ein Privatmann, welcher mit den Waffen in der Hand seinem Nachbar eine Kuh oder Saatkorn raubt, wird sogleich von der Polizei ergriffen und ins Gefängnis gebracht. Außerdem wird ein solcher Mensch von der öffentlichen Meinung verurteilt und Dieb und Räuber genannt. Ganz anders aber ist es im staatlichen Leben. Alle Staaten sind bewaffnet, keine höhere Gewalt steht über ihnen, außer den komischen Bemühungen, den Vogel zu fangen und ihm Salz auf den Schwanz zu streuen – nämlich den Versuchen, internationale Friedenskongresse zu errichten, welche augenscheinlich niemals von mächtigen Staaten angenommen werden (die sich ja eben deshalb bewaffnet haben, weil sie sich niemand unterordnen wollen). Und dazu kommt noch, daß die öffentliche Meinung, welche jede Gewaltthat eines gewöhnlichen Menschen verurteilt, jede Aneignung fremden Gutes zur Vergrößerung der Macht seines Vaterlandes rühmt, als eine That des Patriotismus.

Zu welcher Zeit man auch in eine Zeitung blickt, stets findet man irgend einen schwarzen Punkt, welcher die Ursache eines Krieges werden kann. Bald ist es Korea, bald Pamir, bald sind es afrikanische Länder, Abessinien oder Armenien, die Türkei, Venezuela oder Transvaal. Die Raubthaten hören keinen Augenblick auf. Unaufhörlich bricht bald hier, bald dort ein kleiner Krieg aus, wie das Feuer in einer Schützenkette, und jeden Augenblick kann ein großer Krieg beginnen.

Wenn ein Amerikaner vor allen anderen Ländern der Größe und Wohlfahrt Amerikas seine Wünsche weiht, so wünscht auch ein Engländer dasselbe für sein Vaterland, und dasselbe wünscht auch ein Russe, ein Türke, ein Holländer, ein Abessinier, ein Bewohner von Venezuela oder von Transvaal, ein Armenier, ein Pole und ein Tscheche, und alle sind überzeugt, daß man diese Wünsche nicht verbergen und unterdrücken dürfe, sondern, daß man sich ihrer rühmen könne und sie bei sich und anderen erwecken müsse, und wenn die Größe und Wohlfahrt eines Landes und Volkes nicht anders gefördert werden kann, als mit Benachteiligung eines oder gar mehrerer anderer Länder und Völker – so ist der Krieg unvermeidlich. Und darum ist das wirksamste Mittel zur Vermeidung des Krieges nicht, Predigten und Gebete um Erhaltung des Friedens zu lesen, noch die englisch sprechenden Nationen zur Freundschaft unter sich zu ermahnen, um über andere Völker zu herrschen, noch Zweibünde und Dreibünde gegeneinander zu errichten, noch Prinzen mit Prinzessinnen zu verheiraten, sondern notwendig ist vor allem, das zu vernichten, was den Krieg hervorbringt. Der Krieg aber wird durch den Wunsch ausschließlichen Wohlergehens für das eigene Volk, das, was man Patriotismus nennt, hervorgebracht. Will man den Krieg abschaffen, so muß man also den Patriotismus abschaffen. Um aber den Patriotismus abzuschaffen, muß man vor allem sich selbst überzeugen, daß er vom Übel ist, und das ist eben schwer. Sagt man den Menschen, der Krieg sei schlecht, so werden sie lachen, denn das weiß jedermann. Sagt man ihnen, der Patriotismus sei schlecht, so wird die Mehrzahl beistimmen, aber mit einem kleinen Vorbehalt: „Ja, der schlechte Patriotismus ist schlecht, aber es giebt noch einen anderen Patriotismus, den, an welchen wir uns halten.“ Aber worin dieser gute Patriotismus besteht, das erklärt niemand. Wenn der gute Patriotismus darin besteht, daß man nicht eroberungssüchtig ist, wie viele sagen, so ist doch der Patriotismus unfehlbar konservativ, das heißt: von solcher Art, daß die Menschen behalten wollen, was früher erobert wurde. Denn es giebt kein Reich, das nicht durch Eroberung gegründet worden wäre, und das Eroberte zu behaupten, ist durch keine anderen Mittel möglich, als eben durch dieselben, durch welche erobert wird, nämlich Gewaltthat, Mord. Wenn der Patriotismus wirklich nicht konservativ ist, so ist er wiederherstellend – der Patriotismus unterdrückter Völker, Armenier, Polen, Tschechen, Irländer und so weiter. Und dieser Patriotismus ist beinahe der schlimmere, weil er der grimmigste ist und noch heftiger nach Gewaltthat verlangt.

Der Patriotismus kann nicht gut sein. Warum sagen die Leute nicht, der Egoismus könne gut sein, obgleich dies leichter zu behaupten wäre, weil der Egoismus ein natürliches Gefühl ist, mit welchem der Mensch geboren wird, während der Patriotismus ein künstliches, ihm eingeimpftes Gefühl ist.

Man sagt: „Der Patriotismus verband die Menschen zu Reichen und erhält die Einheit der Reiche,“ aber die Menschen haben sich schon zu Reichen vereinigt, das ist eine vollendete Thatsache. Warum aber soll man jetzt die ausschließliche Hingebung der Menschen für ihr Reich begünstigen, wenn diese Hingebung den Reichen und Völkern schreckliches Elend bringt? Derselbe Patriotismus, welcher die Einigung der Menschen zu Reichen veranlaßt hat, zerstört jetzt dieselben Reiche. Wenn es nur eine Art von Patriotismus gäbe, wie der Patriotismus der Engländer allein, so könnte man ihn für vereinigend oder tugendhaft halten, aber wenn es so wie jetzt sehr verschiedene Arten giebt: einen amerikanischen, englischen, deutschen, französischen, russischen, welche alle einander gegenüberstehen, so wirkt der Patriotismus nicht mehr vereinigend, sondern trennend. Wollte man sagen, wenn der Patriotismus wohlthätig gewirkt habe, indem er die Menschen zu Reichen vereinigt habe, wie zur Zeit seiner Blüte in Griechenland und Rom, so sei ihr Patriotismus auch jetzt nach achtzehnhundertjährigem, christlichem Leben ebenso wohlthätig, so könnte man ebenso gut sagen, da das Pflügen für das Feld vor der Aussaat nützlich gewesen sei, so werde es auch jetzt ebenso nützlich sein, nachdem die Aussaat bereits vorüber ist.

Es wäre ja gut, wenn man dem Patriotismus das Andenken an jenen Nutzen bewahren könnte, welchen er einst den Menschen gebracht hat, ganz ebenso wie die Menschen das Andenken an altertümliche Denkmäler, Kirchen, Grabmäler und so weiter bewahren. Aber die Kirchen und Gräber stehen still und fügen den Menschen keinen Schaden zu, der Patriotismus aber verursacht den Menschen unzählige Leiden.

Warum leiden und morden sich jetzt auf wilde Weise die Armenier und Türken? Warum sind England und Rußland jedes mit der ferneren Erbschaft der Türkei beschäftigt und sehen den Mordthaten in Armenien unthätig zu? Warum morden sich die Abessinier und Italiener? Warum wollte kürzlich ein schrecklicher Krieg wegen Venezuela ausbrechen und dann wegen Transvaal? Und der chinesisch-japanische Krieg und der türkische, deutsche und französische? Und die Schwächungen der unterworfenen Völker, Armenier, Polen, Irländer und die Kriegsrüstungen aller Völker? Alles sind Früchte des Patriotismus. Ströme von Blut sind wegen dieses Gefühls geflossen und werden noch seinetwegen fließen, wenn die Menschen sich nicht von diesem überlebten Überrest des Altertums befreien.

Schon mehrmals hatte ich über den Patriotismus zu schreiben, über die vollständige Unvereinbarkeit, nicht nur mit der Lehre Christi in ihrem idealen Sinn, sondern auch mit den niedrigsten sittlichen Anforderungen der christlichen Gesellschaft, und jedesmal antwortet man mir auf meine Beweisgründe durch Schweigen oder durch den hochmütigen Hinweis darauf, die von mir ausgesprochenen Gedanken seien Phantasien des Mysticismus, des Anarchismus und des Kosmopolitismus. Oft wurden meine Gedanken in gedrängter Form wiederholt, zugleich mit einer Erwiderung derselben. Es wurde nur hinzugefügt, das sei nichts anderes als Kosmopolitismus, als ob das Wort Kosmopolitismus alle meine Beweisgründe siegreich widerlegen würde. Ernste, kluge, gute, alte Leute, welche vor allem wie die Stadt auf der Höhe des Berges stehen, Leute, welche durch ihr Beispiel unwillkürlich die Massen leiten, stellen sich an, als ob die Rechtmäßigkeit und Tugendhaftigkeit des Patriotismus so sehr augenscheinlich und unzweifelhaft sei, daß es überflüssig sei, die leichtsinnigen und unsinnigen Angriffe auf dieses heilige Gefühl zu beantworten. Und die meisten Menschen, welche von Jugend auf durch den Patriotismus bethört wurden, halten dieses hochmütige Schweigen für einen überzeugenden Beweis und verharren in ihrer Unwissenheit.

Und darum begehen die Menschen eine große Sünde, welche durch ihre Stellung dazu beitragen könnten, die Massen von ihren Irrtümern zu befreien, dies aber unterlassen.

Das Schrecklichste ist, daß es in der Welt Heuchelei giebt. Nicht umsonst war Christus nur ein einziges Mal erzürnt, und zwar über die Heuchelei der Pharisäer. Im Vergleich mit der Heuchelei unserer Zeit wären die Pharisäer die gerechtesten Menschen, und ihre Kunst der Heuchelei ist im Vergleich mit unseren Künsten ein Kinderspielzeug. Und anders kann es nicht sein. Unser ganzes Leben mit dem christlichen Bekenntnis, den Lehren der Demut und Liebe im Verein mit dem Leben einer bewaffneten Räuberbande kann nichts anderes sein als schreckliche Heuchelei. Es ist sehr bequem, sich zu einer solchen Lehre zu bekennen, welche an einem Ende die christliche Heiligkeit und darum Sündlosigkeit, am anderen Ende aber das heidnische Schwert und den Galgen hat. Auf diese Art kann man, um durch Heiligkeit zu imponieren und betrügen, die Heiligkeit vorkehren, wenn aber der Betrug mißlingt, Schwert und Galgen anwenden. Eine solche Lehre ist sehr bequem, aber die Zeit wird kommen, wo dieses Lügengewebe zerrissen wird, wo man nicht mehr beides in Anwendung bringen kann, und es notwendig wird, sich zu dem einen oder anderen zu halten. Dasselbe steht jetzt bevor in Bezug auf die Lehre vom Patriotismus.

Ob die Menschen wollen oder nicht, diese Frage steht jetzt vor der Menschheit: Auf welche Weise kann dieser Patriotismus, von welchem physische und geistige Leiden der Menschheit herstammen, nützlich und wohlthätig werden? Es ist notwendig, auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Es ist notwendig, entweder zu beweisen, daß der Patriotismus ein großes Heil sei, das alles jenes schreckliche Elend aufwiegt, das er der Menschheit bringt, oder einzugestehen, daß der Patriotismus ein Übel ist, das man nicht nur den Menschen nicht einflößen darf, sondern vor welchem man sich mit allen Kräften zu bewahren suchen muß.

Cʼest à prendre ou à laisser,“ wie der Franzose sagt. Wenn der Patriotismus gut ist, so ist das Christentum, das den Frieden bringt, eine leere Phantasie, und je schneller diese Lehre ausgerottet wird, desto besser. Wenn aber das Christentum wirklich den Frieden bringt, und wir in Wahrheit den Frieden wollen, ist der Patriotismus ein Überrest der barbarischen Zeit und darf nicht anerzogen werden, wie wir das jetzt thun, sondern muß mit allen Mitteln ausgerottet werden: durch Predigt, Ermahnung, Verachtung, Spott. Wenn das Christentum die Wahrheit ist, und wir im Frieden leben wollen, so kann man nicht nur nicht für die Macht seines Vaterlandes schwärmen, sondern man muß sich freuen über seine Schwächung und dazu mitwirken. Der Russe muß sich freuen, wenn sich Polen und das Ostseegebiet, Finnland, Armenien von ihm trennen und sich befreien, und der Engländer muß sich freuen über dasselbe in Beziehung auf Irland, Australien, Indien und andere Kolonien und dazu mitwirken, weil, je größer das Reich ist, um so bösartiger und grausamer auch sein Patriotismus ist und um so größere Leiden seine Macht hervorbringt.

Und darum, wenn wir wirklich sein wollen, was wir zu sein bekennen, so müssen wir nicht wie jetzt die Vergrößerung unseres Reiches, sondern die Verkleinerung und Schwächerung desselben wünschen und mit allen Kräften danach streben, und müssen den jungen Generationen bei der Erziehung einprägen, daß es eine Schande für einen Menschen ist, seinen groben Egoismus darin zu zeigen, daß er alles aufißt und für andere nichts übrig läßt, daß er den Schwächeren aus dem Wege stößt, um selbst bequemer vorüberzugehen, daß er mit Gewalt wegnimmt, was ein anderer bedarf, und daß es auch eine Schande wäre, nach der Vergrößerung der Macht seines Vaterlandes zu streben, und daß ebenso dumm und lächerlich wie die Selbstverherrlichung auch die Verherrlichung seines Volkes ist, wie sie jetzt in verschiedenen pseudopatriotischen Geschichten, Bildern, Denkmälern, Lehrbüchern, Erzählungen, Gedichten, Predigten, sowie in den einfältigen Volkshymnen geübt wird. Aber man muß begreifen, daß, so lange wir den Patriotismus verherrlichen und in den jungen Generationen aufziehen, bei uns die Kriegsbereitschaft herrschen wird, welche das physische und geistige Leben der Völker zerstört, und daß auch Kriege kommen werden, entsetzliche Kriege, wie diejenigen, zu denen wir uns jetzt vorbereiten.

Kaiser Wilhelm hat kürzlich ein Bild gemalt, in welchem die Völker Europas bewaffnet am Ufer des Meeres stehen und nach Anweisung des Erzengels Michael nach den in der Ferne sichtbaren Gestalten von Buddha und Confucius blicken. Nach der Absicht des Malers sollte dies bedeuten, daß die Völker Europas sich vereinigen sollten, um der von dorther sich nahenden Gefahr entgegenzutreten, und er hat vollkommen recht, auch von seinem Standpunkt als Patriot aus. Die europäischen Völker haben Christus im Namen ihres Patriotismus vergessen und haben diese friedlichen Völker aufgereizt und sie Patriotismus und Kriegskunst gelehrt, und jetzt haben sie sie so sehr aufgestachelt, daß, wenn in Wirklichkeit Japan und China die Lehre von Buddha und von Confucius ebenso vergessen, wie wir die Lehre Christi vergessen haben, sie sehr bald die Kunst, Menschen zu morden, lernen (das geht sehr schnell, wie die Japaner beweisen) und furchtlos, gewandt, stark und zahlreich werden und unfehlbar sehr bald aus den Ländern Europas dasselbe machen werden, was die Länder Europas aus Afrika machen, wenn die Europäer nicht verstehen, ihnen etwas Stärkeres entgegenzusetzen, als die Waffen und die Erfindungen Edisons. Der Jünger ist nicht über seinem Meister. Wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. (Lucas VI, 40.)

Auf die Frage eines Fürsten, wie und um wieviel er seine Truppen vermehren solle, um ein südlich von ihm lebendes, noch nicht unterworfenes Volk zu besiegen, erwiderte Confucius: „Beseitige Deine ganze Truppenmacht. Verwende das, was Du jetzt für die Truppen ausgiebst, auf die Erleuchtung Deines Volkes und auf die Verbesserung der Landwirtschaft, dann wird das südliche Volk seinen Fürsten verjagen und sich ohne Krieg Deiner Gewalt unterwerfen.“

So lehrte Confucius, welchen man so verehrt. Wir aber haben die Lehre Christi vergessen, verleugnen ihn und ziehen aus, um Völker mit Gewalt zu unterwerfen, und dadurch machen wir uns nur neue und stärkere Feinde als unsere Nachbarn. Einer meiner Freunde, welcher das Bild Kaiser Wilhelms gesehen hatte, sagte: „Das Bild ist schön, nur stellt es nicht das vor, was die Unterschrift besagt: Es stellt dar, wie der Erzengel Michael allen Völkern Europas, welche als schwerbewaffnete Räuber dargestellt sind, das zeigt, was sie zu Grunde richtet, nämlich die Milde Buddhas und den Verstand des Confucius.“ Er hätte hinzufügen können „und die Demut des Lao-Tse“. Und wir haben wirklich dank unserer Heuchelei Christus so sehr vergessen und aus unserem Leben alles Christliche ausgerottet, daß die Lehren des Buddha und des Confucius unvergleichlich höher stehen als jener barbarische Patriotismus, durch den sich unsere pseudochristlichen Völker leiten lassen.

Und darum liegt die Rettung Europas und der christlichen Welt überhaupt nicht darin, daß sie sich wie Räuber mit Schwertern umgürten, um Menschen jenseits des Meeres zu morden, sondern im Gegenteil darin, daß sie sich von den Überresten der barbarischen Zeiten, dem Patriotismus, lossagen, die Waffen ablegen und den Völkern des Ostens nicht das Beispiel eines wilden, barbarischen Patriotismus geben, sondern das Beispiel brüderlicher Liebe, wie uns Christus gelehrt hat. Moskau, den 5. Januar 1896.
Leo Tolstoi

Russischer Text ǀ ПАТРИОТИЗМ ИЛИ МИР? – Patriotizm ili mir? (Patriotismus oder Frieden?, 1896). L. N. Tolstoi: PSS – Russische Gesamtausgabe in 90 Bänden, Moskau 1928-1957ff (Polnoe sobranije sočinenij), Band 90, S. 45-53. [Als Internet-Ressource: https://tolstoy.ru/online/90/90/#h000011004]

Textquelle der hier dargebotenen Übersetzung ǀ Graf Leo N. TOLSTOI: Meine ersten Erinnerungen sowie verschiedene kleine Schriften. Aus dem Russischen übersetzt von L. A[lbert]. Hauff. Berlin: Verlag von Otto Jahnke o.J. [1910].

Weitere Übersetzung ǀ Graf Leo TOLSTOI: Patriotismus oder Frieden? Vom Verfasser autorisierte Uebersetzung aus dem Manuskript von Sophie Behr. Berlin: Verlag von August Deubner 1896, S. 6-25. [Gesamtumfang des Bandes: 40 Seiten] [Erneut gedruckt in: Leo N. Tolstoi: Staat – Kirche – Krieg. Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus. Ausgewählt und neu ediert von Peter Bürger. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 2). Norderstedt: BoD 2023, S. 114-124.]


Abbildung oben ǀ Vasily Vereshchagin (1842-1904): Apotheose des Krieges, 1871 – https://commons.wikimedia.org