Brief an einen Feldwebel
(ПИСЬМО К ФЕЛЬДФЕБЕЛЮ ǀ Pisʼmo k felʼdfebelju, 1899)
Sie wundern sich darüber, daß man die Soldaten lehrt, es sei – in bestimmten Fällen und im Kriege – erlaubt, Menschen zu töten, indes in dem Buche, das von denselben Lehrern heilig gehalten wird, nichts, das dergleichen erlauben würde, zu lesen ist, und im Gegenteil nicht nur jede Menschentötung, sondern auch jede Beleidigung des Menschen untersagt wird. Auch ist darin das Verbot zu finden, anderen zu tun, was man für sich selbst mißbilligen würde. Sie fragen, ob Lehren, die diesen zuwiderlaufen, nicht eine Schurkerei sind, und wenn sie es sind, zu wessen Gunsten sie begangen werden.
Ja, sie sind eine Schurkerei, und zu Gunsten derer begangen, die gewohnt sind vom Marke anderer Menschen zu leben, und die, zu diesem Zweck, die von Christus den Menschen zu ihrem Heil gegebenen, in der Folge aber zur Grundquelle aller menschlichen Übel gewordenen Gesetze, verdreht haben und immer noch verdrehen.
Diese Erscheinung wurde auf folgende Art geschaffen:
Die Regierungen und alle Personen der herrschenden Klassen, die die Regierung beeinflussen und von der Arbeit anderer leben, brauchen ein Mittel, um dieses Volk von Arbeitern zu regieren: dieses Mittel ist die Armee. Die Verteidigung des Landes ist nur ein Vorwand für ihre Erhaltung. Die deutsche Regierung schreckt ihr Volk mit den Russen und Franzosen, die französische Regierung ihr Volk mit den Deutschen, und die russische Regierung schreckt ihr Volk mit den Deutschen und den Engländern; so verfahren alle Regierungen. Aber die Deutschen, die Russen, die Franzosen wollen gar keinen Krieg mit ihren Nachbarn, vielmehr ist, was sie am meisten auf der Welt fürchten, der Krieg. Auch die Regierungen und die müßigen herrschenden Klassen tun, um einen Vorwand für ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu haben, wie die Zigeuner, die ihre Pferde heimlich peitschen und dann vorgeben, sie nicht zurückhalten zu können; ebenso reizen die Regierungen ihr Volk und andere Regierungen, um dann glauben zu machen, daß sie für das Wohl und die Verteidigung ihres Volkes den Krieg zu erklären gezwungen sind, der nur für die Generäle, Offiziere und Kaufleute, sowie für die reichen Klassen im allgemeinen vorteilhaft ist. In Wirklichkeit ist der Krieg nichts als die Folge des Bestehens von Heeren, die Heere wieder sind zu nichts anderem als zur Beherrschung der Arbeiterklasse notwendig. Das ist ein Verbrechen. Schlimmer aber ist, daß die Regierungen, um ihrer Beherrschung des Volkes eine vernünftige Basis zu geben, das Bekenntnis zur höchsten, den Menschen bekannten Religion, dem christlichen Gesetz nämlich, heucheln müssen und ihre Untertanen in dieser Lehre unterrichten.
Diese Lehre ist in ihrem Wesen, nicht allein dem Mord, sondern jeder Gewalt feindlich, und die Regierungen müssen, um das Volk beherrschen und sich christlich nennen zu können, das Christentum unnatürlich machen, seinen wahren Sinn dem Volke verbergen und so die Menschen des Heiles berauben, das ihnen Christus gebracht hat. Diese Fälschung des Christentums wurde vor langer Zeit schon, unter dem Frevler, der für diese Tat heilig gesprochen wurde, Kaiser Konstantin, begonnen. Seither bemühen sich alle Regierungen, vornehmlich die russische, mit allen Mitteln zu verhindern, daß die Völker den wirklichen Sinn des Christentums wahrnehmen, denn erführen sie ihn, so würden die Völker begreifen, daß die Regierungen mit ihren Steuern, Soldaten, Gefängnissen, Galgen und ihren lügnerischen Priestern, nicht nur nicht, was sie zu sein vorgeben, die Erhalter des Christentums, sondern viel eher seine größten Feinde sind.
Aus dieser Verfälschung werden alle Betrügereien, die sie in Erstaunen versetzt haben, und alles Unheil, darunter das Volk leidet, geboren.
Das Volk ist bedrückt, ausgesogen, elend, unwissend, dezimiert. Warum? Weil die Erde in der Hand der Reichen ist. Das Volk ist in Fabriken, in Hüttenwerken vereinigt, weil man ihm Steuern erpreßt, weil man seinen Arbeitswert verringert und den Preis seiner Lebensbedürfnisse steigert. Aber wie dem abhelfen? Die Erde gegen die Reichen empören? Aber wenn man solches täte, kämen die Soldaten, die die Agitatoren töten oder ins Gefängnis werfen würden. Die Fabriken und Hütten empören? Es würde dieselbe Wirkung haben. Streiken? Das wird nie Erfolg haben; die Reichen behaupten sich viel länger als die Arbeiter, die Truppen werden immer auf Seite der Kapitalisten sein. Das Volk wird nie aus dem Elend, in dem man es hält, herauskommen, solange die Truppen den herrschenden Klassen unterworfen sind.
Wer aber sind die Truppen, die das Volk in dieser Sklaverei halten? Wer sind die Soldaten, die das Land besetzende Bauern, Streikende, die nicht vom Streike lassen wollen, Schmuggler, die Waren, ohne Steuern zu zahlen, in Verkehr bringen, erschießen wollen und widerspenstige Steuerzahler ins Gefängnis werfen und sie darin halten? Diese Soldaten sind dieselben Bauern, die das Land zur Empörung gebracht, dieselben Streikenden, die höheren Arbeitslohn verlangen, dieselben Steuerzahler, die von der Zahlung befreit sein wollen. Warum also töten diese Menschen ihre Brüder? Nur, weil ihnen der Gedanke eingebläut wurde, daß der Schwur, den man sie hatte beim Eintritt in den Militärdienst schwören lassen, für sie unumstößlich sei, und daß – wenn auch im allgemeinen Menschentötung untersagt ist – man auf Anordnung des Befehlshabers Menschen töten darf; das heißt, daß die Soldaten Opfer desselben Betruges sind, der Sie in Erstaunen versetzt hat. Aber hier wirft sich eine Frage auf. Wie können vernünftige Menschen, die sehr oft lesen und schreiben können, ja selbst intelligent und gebildet sind, eine so offenkundige Lüge glauben? Wie wenig gebildet ein Mensch auch sei, er muß wissen, daß Christus den Mord nicht erlaubt hat, vielmehr Güte, Demut, Verzeihung von Beleidigungen und Feindesliebe gepredigt hat; unmöglich ist es, daß der Mensch nicht begreift, daß man (gemäß der christlichen Lehre) ihm nicht von vornherein erlauben kann, alle zu morden, die zu töten man ihm befehlen wird.
Die Frage ist die: wie können vernünftige Menschen eine so große Lüge glauben, wie sie alle diejenigen, welche augenblicklich bei Militär sind, geglaubt haben und glauben? Hier die Antwort. Das ist nur möglich, weil die Menschen nicht nur durch diese Schurkerei getäuscht sind, sondern geradezu von Kindheit an durch eine Reihe von Lügen, durch ein System von Betrügereien, das sich die orthodoxe Religion nennt und nichts anderes als gröbster Götzendienst ist, für sie vorgeschult werden. Durch diese Religion werden die Menschen belehrt, daß Gott dreifaltig ist, und daß es außer dem dreifaltigen Gott noch eine Himmelskönigin gibt, und außer dieser Königin noch Heilige aller Gattungen vorhanden sind, deren Körper unzerstört sind, daß es Bilder Gottes und der Himmelskönigin gibt und daß man sie mit Wachskerzen beleuchten und mit Gebärden anbeten muß, daß nichts wichtiger und heiliger ist auf der Welt als diese kleine Hostie, die jeden Sonntag vom Priester hinter dem Vorhang aus Brot und Wein zubereitet wird, und daß nachdem der Priester über Wein und Brot gebrummt hat, der Wein nicht mehr Wein und das Brot nicht mehr Brot ist, sondern das Blut und der Leib eines dreifaltigen Gottes u.s.w.
Das alles ist so albern, daß es unmöglich ist seinen Sinn zu verstehen. Übrigens befehlen die Lehrer dieser Religion nicht zu verstehen, sondern nur zu glauben. Von Kindheit auf an diese Unwahrheiten gewöhnt, haben die Menschen zu allem anderen Unsinn, den man ihnen sagt, nur Glauben hinzuzufügen. Wenn die Menschen so blind sind, daß sie glauben, daß Gott in einer Ecke aufgehängt und in dem kleinen Stück Brot verkörpert ist, das ihnen der Priester in einem Löffel gibt; wenn sie das Holz oder Reliquien umarmen und glauben, daß es für dieses und das künftige Leben nützlich sei, diese Bilder mit Wachslichtern zu umgeben, dann ruft man sie zum Militärdienst und täuscht sie dort, wie man will, indem man sie vor allem einen Eid auf das Evangelium (in dem das Verbot einen Eid zu leisten ausgesprochen ist) schwören läßt, so daß sie das tun, was durch das Evangelium verboten ist; dann lehrt man sie, daß Töten auf Befehl des Kommandanten keine Sünde ist, eine Sünde aber den Vorgesetzten nicht zu gehorchen u.s.w.
So ist dieser Irrtum des Soldaten, daß man ohne Sünde auf Befehl des Kommandanten töten dürfe, nicht vereinzelt, sondern an alle Lügensysteme gebunden, ohne die der Irrtum wirkungslos wäre. Nur ein von dieser falschen Religion, die man orthodoxe nennt, vollständig irregeführter Mensch, dem man diese als eine christliche Religion auftischt, kann glauben, daß ein Christ ohne Sünde zu Militär gehen könne, mit dem Versprechen, jedem in der Rangordnung Höhergestellten blindlings zu gehorchen, den Mord zu lernen und zu tun, was durch alle Gebote Christi aufs ausdrücklichste verboten ist.
Der Mensch, der von der Lüge und der falschen christlichen Religion, die man orthodoxe nennt, frei ist, wird das niemals glauben; deswegen haben sich diejenigen, welche man Sektierer nennt (d. h. die Christen, welche die Lehren der Orthodoxie leugnen und die Lehre Christi annehmen, wie sie in den Evangelien und besonders in der Bergpredigt geschrieben steht), nie von dieser Lüge täuschen lassen und haben sich immer geweigert und weigern sich als Soldaten zu dienen, weil sie den Militärdienst für nicht mit dem Christentum vereinbar halten und es vorziehen tausend Qualen zu erleiden. Hunderttausende von Menschen erleiden sie jetzt: in Rußland die Duchoborzen und Molokaner, in Österreich die Nazarener, in der Schweiz, Schweden und Deutschland die Protestanten [gemeint: Angehörige der Friedenskirchen – nicht der protestantischen Staatskirche des Kaiserreiches, pb]. Die Regierung weiß das: deswegen überwacht sie nichts mit solcher Besorgnis wie die Lüge der Kirche, ohne die ihre Macht unmöglich wäre, und die schon von Kindheit an wirkt und auf alle Kinder, weil kein Mensch sie vermeiden kann. Die Regierung erlaubt alles, das Trinken und die schlechten Sitten (sie erlaubt nicht nur, sie ermutigt dazu), aber sie hindert die schon von der Lüge freien Menschen die anderen davon zu befreien.
Besonders die russische Regierung verwirklicht grausam und heimtückisch diese Täuschung; sie befiehlt allen ihren Untertanen unter Androhung von Strafe ihre Kinder in niedrigstem Alter gemäß der falschen Religion, die man orthodoxe nennt, zu taufen; dann, wenn die Kinder getauft sind, (das heißt sich als Orthodoxe betrachten), verbietet man ihnen unter Androhung von Strafe über diese Religion zu reden, der gemäß sie unfreiwillig getauft wurden; für die Diskussion über diese Religion bestraft man sie so, wie für den Übertritt zu einer anderen. Deshalb kann man nicht von allen Russen sagen, daß sie an die orthodoxe Religion glauben: sie wissen nicht, ob sie daran glauben oder nicht, denn sie wurden in dieselbe eingeführt, als sie noch ganz kleine Kinder waren, und sie werden darin durch Gewalt und Furcht vor Züchtigungen festgehalten. Alle Russen werden zur Orthodoxie durch heimtückische Mittel geführt und nur die brutale Gewalt zwingt sie dabei zu bleiben. Aus der Macht, die sie hat, Gewinn ziehend, unterstützt die Regierung die Lüge und die Lüge unterstützt die Regierungsgewalt.
Deshalb ist das einzige Mittel, die Menschen von allen Übeln zu befreien, sie von der falschen Religion zu befreien, die ihnen von der Regierung aufgezwungen worden ist, und ihnen die wahre christliche Lehre mitzuteilen, die von der falschen verborgen gehalten wird. Die wahre christliche Lehre ist sehr einfach und sehr klar, für alle verständlich, wie sie Christus gelehrt hat, aber sie ist nur dann einfach und verständlich, wenn der Mensch frei ist von der Lüge, in der wir erzogen sind und die man uns für göttliche Wahrheit gibt.
Man kann nicht notwendige Dinge in eine Schale geben, die voll ist von unnützen Dingen; man muß die Schale vorerst von all dem reinigen, was nicht notwendig ist. So muß man auch bei Annahme der wahren christlichen Lehre wissen, daß alle diese Geschichten – daß Gott die Welt vor sechstausend Jahren schuf, daß Adam sündigte und daß der Mensch durch den Sündenfall vom rechten Wege abkam, daß der Sohn Gottes von einer Jungfrau geboren auf die Welt kam und sie erlöst hat, und alle Fabeln der Bibel und des Evangeliums und alle Leben von Heiligen und die Erzählungen von den Wundern und die Reliquien – nichts anderes sind als ein grobes Gemisch von Vorurteilen des hebräischen Volkes und des Klerus. Die Lehre Christi kann nur für einen von allen Hirngespinsten freien Menschen verständlich, einfach und klar sein. Diese Lehre spricht weder vom Anfang noch vom Ende der Welt, weder von Gott noch von seinen Plänen; im allgemeinen spricht sie überhaupt nicht von dem, was wir nicht wissen können, doch was zu wissen uns nützlich wäre, sondern von dem, was der Mensch tun muß, um sich zu retten, das heißt um auf die vornehmste Weise zu leben, von seiner Geburt bis zu seinem Tode, dieses Leben, für das er zur Welt gekommen ist. Deswegen müssen wir gegen die anderen nur so handeln, wie wir wollen, daß die anderen gegen uns handeln. Das ist das ganze Gebot, wie es Christus ausgesprochen hat, und um danach zu handeln, braucht man kein Bild Gottes, keine Reliquien, keine Messe, keine Pfaffen, keine heilige Geschichte, keinen Katechismus, keine Regierung; im Gegenteil, wir müssen dieser Dinge vollständig ledig sein, weil der Mensch – um gegen die anderen so handeln zu können, wie er will, daß die anderen gegen ihn handeln – von Fabeln, die ihm die Pfaffen als einzige Wahrheit geben, frei sein muß. Er darf nicht gezwungen sein mit den Mitmenschen so zu verfahren, wie es ihm jene Pfaffen auftragen. Erst dann wird der Mensch handeln können, nicht nach seinem Willen, noch auch nach dem von anderen Menschen, sondern nach dem Willen Gottes. Der Wille Gottes ist es nicht, daß wir Kriege anzetteln und die Armen unterdrücken, sondern, daß wir alle Menschen als unsere Brüder betrachten und uns gegenseitig unterstützen. Solcherart sind die Gedanken, die Ihr Brief in mir hervorgerufen hat. Ich wäre sehr glücklich, wenn sie Ihnen helfen könnten, die Fragen, die Sie beschäftigen, aufzuhellen.
Russischer Text ǀ Leo N. TOLSTOI: ПИСЬМО К ФЕЛЬДФЕБЕЛЮ – Pisʼmo k felʼdfebelju (Brief an einen Feldweibel, 1899). In: In: PSS [Russische Gesamtausgabe in 90 Bänden, Moskau 1928-1957ff: Polnoe sobranije sočinenij] – Band 90, S. 54-59. [https://tolstoy.ru/online/90/90/#h000011005] [Hilfsmittel für Leser:innen ohne Russisch-Kenntnisse: https://www.deepl.com/translator] Textquelle dieser Übersetzung (Kurzfassung) ǀ Leo N. TOLSTOI: Militarismus und Religion (Brief an einen Unteroffizier). In: L. Tolstoi: Die Friedenskonferenz. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Josef Kalmer. (= Bibliothek für die Internationale des Geistes – Phalanx, Band II). Leipzig/Wien: Verlag der Wiener Graphische Werkstätte 1920, S. 25-40. [Gesamtumfang der Publikation 52 Seiten] Weitere Übersetzung des Briefes (längere Fassung) ǀ Leo TOLSTOI: Briefe 1848-1910. Gesammelt und herausgegeben von P. A. Sergejenko. Autorisierte vollständige Ausgabe. Berlin: Verlag J. Ladyschnikow 1911, S. 399-406: „Nr. 375. An einen Feldwebel, 1899“. [Der gesamte Band wird 2023 in der Tolstoi-Friedensbibliothek neu ediert.] Abbildung oben ǀ Reproduktion einer Postkarte zum 1. Weltkrieg (1915), Archiv der Evangelischen Akademie der Nordkirche