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Es ist Zeit, zu begreifen

Ein staatskritischer Text über den „Dschingis Khan mit Telegraphen“

(Pora ponjatʼ, 1909 – Übertragung für die Tolstoi-Friedensbibliothek, 19.02.2023)

„Ein Staat, der auf Kalkül beruht und durch Furcht zusammengehalten wird, ist ein ebenso abscheuliches wie zerbrechliches Gebäude“, sagt Amiel [Henri-Frédéric Amiel, 1821-1881] an irgendeiner Stelle. Dem vermag man gar nicht zu widersprechen, und man kann es mit dem Verstand nachvollziehen; aber neben diesem verstandesmäßigen Zugang kann man mit dem ganzen Wesen ein Gefühl des Ekels und des Entsetzens vor einem solchen Gebilde empfinden, wenn man in ihm lebt, und die ganze Hässlichkeit und Zerbrechlichkeit dieses Gebildes bleibt in keiner Weise verborgen. Die überwiegende Mehrheit der 150 Millionen Menschen in Russland teilt jetzt genau dieses Gefühl.

Es mag so sein, dass Abscheulichkeit und Zerbrechlichkeit des Gebäudes durch die ausgeklügelten Sophismen, die sich über Generationen eingeprägt haben, geschickt vor den Menschen verborgen werden; die Hauptsache ist hierbei, dass die Menschen so verstrickt sind, gefangen in diesem Gebäude durch ihre persönlichen Berechnungen der Eitelkeit und Gier, dass sie nicht sehen können, nicht mehr sehen wollen: den Wahnsinn, die Un­gerechtigkeit, die Grausamkeit dieses Gebildes und – in Skla­verei verblendet – sich vorstellen, dass alle Einrichtungen des Gebäudes – Gerichte, Polizei, Truppen, Ministerien, vor allem Parlamente – die notwendigen und segensreichen Institutionen sind, die ihre Sicherheit und Freiheit gewährleisten. Solche Menschen glauben aufrichtig, dass sie so frei sind, wie Menschen nur eben sein können, und dass jene Institutionen, die sie in Knechtschaft halten, unverzichtbare Bedingungen des Lebens aller Menschen sind, und dass, wenn irgendetwas an ihnen geändert werden muss, nur einige Einzelheiten zu ändern seien, aber im Allgemeinen alles so ist, wie es sein solle und nicht anders sein könne. So denken Engländer, Amerikaner, Franzosen, Deutsche, und sie mögen so denken; aber wir Russen können leider, oder besser gesagt: zu unserem Glück, besonders heutzutage, nicht so denken und fühlen. Die überwältigende Mehrheit von uns Russen versteht und fühlt mit ihrem ganzen Wesen, dass das ganze staatliche System, das uns gefangen hält, uns unterdrückt und korrumpiert, nicht nur nicht notwendig ist für uns, sondern etwas Feindseliges, Abscheuliches und absolut Unnötiges und Widersinniges bedeutet. Für jeden Menschen heutzutage in Russland mit ein wenig Verstand, auch für den Ungebildetsten, ist es ganz klar, dass er neben den gewöhnlichen Widrigkeiten, die das ruhige Leben des Menschen unterbrechen, ständig Entbehrungen und Leiden erfährt, deren Ursache einzig die Tätigkeit der Regierung ist, die ihn mit unerbittlicher Grausamkeit und Brutalität, ohne jede Notwendigkeit, ständig drangsaliert und bedrückt – es sei denn, er gehört selbst zu den Menschen, die die anderen bedrücken. Einerseits spürt der russische Mensch unserer Zeit diesen Druck besonders lebhaft, denn die Regierung, die auf keine Hindernisse mehr stößt, bedrängt, erwürgt, tötet, inhaftiert, verbannt alle, die es wagen, sich nicht nur zu widersetzen, sondern auch ihre Stimme zum Protest gegen sie zu erheben; andererseits empfinden die Menschen in Russland die Grausamkeit, die Grobheit und den hemmungslosen Despotismus der Regierung auch deshalb besonders lebhaft, weil die Leute in letzter Zeit, nachdem sie die Möglichkeit eines freieren Lebens im Vergleich zum bisherigen begriffen haben, zum Teil sich selbst als vernünftige Geschöpfe erkennen, denen das Recht eigen ist, sich im Leben von der Vernunft und dem Gewissen leiten zu lassen und nicht vom Willkürwillen dieses oder jenes Unbekannten, der zufällig die Rolle eines Regierenden eingenommen hat. Je brutaler, gröber und unkontrollierter die Macht der Regierung wurde, desto mehr wurde sich das Volk der Verrücktheit eines solchen Zustandes bewusst und der Unmöglichkeit, ihn aufrechtzuerhalten. Und sowohl die zügellose Willkür der Macht als auch das Bewusstsein der Unrechtmäßigkeit dieser Macht, das von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde zunimmt, haben in letzter Zeit einen höchsten Grad erreicht. Obwohl jedoch die Mehrheit des Volkes sich der Nutzlosigkeit und Bösartigkeit der Regierung klar bewusst ist, kann sich das Volk nicht mit Gewalt von ihr befreien, da die praktischen Vorrichtungen wie Eisenbahnen, Telegraphen, Druckereimaschinen u.s.w., über die die Regierung verfügt, alle Emanzipationsversuche des Volkes stets sofort unterdrücken können. So befindet sich die russische Regierung gegenwärtig in jener Lage, von der [A.] Herzen mit Entsetzen gesprochen hat. Sie ist jetzt eben jener Dschingis Khan mit Telegraphen, dessen Potenzen ihn so erschreckten. Und Dschingis Khan ist nicht nur ausgestattet mit Telegraphen, sondern mit einer Verfassung, mit zwei Kammern, der Presse, den politischen Parteien und ‚tout le tremblement‘ [allem Spektakel].

Despotismus! Meine Güte, was für ein Despotismus, wenn wir zwei Kammern, politische Blöcke, Parteien, Fraktionen, Untersuchungen, die Präsidentschaft, den Premierminister, die Parlamentsgebäude haben – alles, wie es sein sollte. Was für eine Willkür, wenn wir einen Chomjakow und einen Maklakow und den führenden Minister haben. Es gibt ein Gesetzeswerk, Zivil- und Strafgerichte, Militärgerichte, es gibt eine Zensur, es gibt die Kirche, Metropoliten, Bischöfe, es gibt Akademien und Universitäten. Wie sollte man da von Despotismus sprechen? – Dass dies alles nur dem Scheingebilde gleichkommt, mit dem man die Menschen in Europa täuschen kann – doch gegenwärtig nicht mehr die Leute in Russland, mit Ausnahme der Beteiligten –, das macht Dschingis Khan nichts aus, denn er hat andere Mittel. Er verfolgt seine Sache in aller Ruhe weiter, in der Hoffnung, dass sich das Volk, wie es in allen sogenannten christlichen Ländern geschah und geschieht, an die Verhältnisse gewöhnt, sich darin verstrickt und der Verwirrung anheimfällt. Dschingis Khan bleibt Dschingis Khan – nur nicht mehr mit einer Horde wilder Mörder, sondern heute mit wohlerzogenen, höflichen, sauberen Mördern, denen es gelingt, die Arbeitsteilung so zu gestalten, dass Rauben und Töten ein einziges Vergnügen ist und auch von feinfühligsten Menschen ins Werk gesetzt werden kann. Die Morde zum Beispiel, Hinrichtungen genannt, werden also nicht einfach begangen, sondern vor jedem solchen Mord kommen fünf Männer in Uniform zusammen, setzen sich auf Sessel und an einen mit einem Tuch bedeckten Tisch, schreiben und sagen mancherlei, und obwohl sie wissen, dass ihr Gerede rein gar nichts am Schicksal desjenigen ändert, den sie hängen wollen, tun sie so, als ob sie urteilen und verurteilen würden. Und mittels dieser Vorgehensweise töten sie drei bis sieben Menschen pro Tag. (Heute, am 25. November, gab es zwölf öffentliche Vorbereitungen für einen Mord – Verurteilungen – und fünf Morde). Und so geht es nun schon über einen Zeitraum von vier, fünf oder mehr Jahren. Die Damen sagen: „Cʼest terrible. Je ne puis jamais lire sans frémir.“ [Das ist schrecklich. Ich kann es nie ohne Erschaudern lesen.]Die Männer stellen ihren männlichen Mut und ihre Vernunft unter Beweis und klären die Damen darüber auf, dass dies für das Gemeinwohl notwendig sei. Die Zeitungen sind entsetzt über die fortgesetzten Hinrichtungen. Wichtige Beamte und Mitglieder der Duma erklären in ihrer Liberalität, dass es höchste Zeit sei, dieser boucherie (Schlachterei) ein Ende zu setzen. Das Abschlachten (boucherie) muss beendet werden, aber die maßgeblichen Schlachthaus-Direktoren lächeln über diese Sentimentalität. Sie wissen, wie unvermeidlich, notwendig und nützlich es ist. Wartet ab, sagen sie, die Zeit wird kommen und wir werden aufhören. Aber sie haben gar keinen Grund, aufzuhören. Alles läuft gut, und es ist sehr gut möglich, dass alles nur wegen dieser „vernünftigen“ Maßnahmen so vorzüglich läuft. Warum sollte man sie also aufgeben? So steht es um die Morde, die von den Behörden begangen werden. Das Gleiche gilt für die Haftbe­din­gungen in Gefängnissen. Die Gefängnisse sind überfüllt, es gibt nicht genug Platz. Menschen sterben an Schwindsucht oder Typhus, laufen weg, revoltieren, bringen sich gegenseitig um, aber die Behörden wissen, dass dergleichen nützlich ist, zumindest nicht schädlich, und unter den bekannten, anständigen, begleitenden Gesprächen und Schriftsätzen stecken sie immer mehr Gefangene ins Gefängnis. Ob diese schuldig oder unschuldig sind, ist dabei egal. Es ist allemal besser, einen Menschen in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, von dem etwas Unangenehmes ausgehen könnte. Es wird uns nicht schaden, wenn er zwei Jahre im Gefängnis sitzt oder dort stirbt, aber wenn er nicht eingesperrt wird, richtet er vielleicht doch Schaden an. Es ist immer besser, übereifrige Dienstbeflissenheit an den Tag zu legen, als sich zu wenig in die Pflicht nehmen zu lassen. Es gibt mehr als hunderttausend Menschen in Gefängnissen, die nur für 70.000 Menschen gebaut wurden. Aber das ist noch nicht der Gipfel. Sobald es auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür gibt, dass ein Mensch denken und sagen könnte, was er über die Handlungen der Regierung denkt, wird er ergriffen, ins Gefängnis geworfen und am Ende sogar an die entlegensten, übelsten Orte gebracht, wo er darben muss – belegt mit dem Verbot, den Ort zu verlassen. Obwohl es schwer zu verstehen ist, wozu dem Dschingis Khan dies nützt, ist es offensichtlich, dass er all dies fleißig tut und sogar eine Menge Geld für diese Verbannten ausgibt. So gibt es auch Hunderttausende von solchen Unglücklichen. Diese Menschen werden verbittert, übertragen ihre Verbitterung auf jene friedlichen Bewohner, die vor ihrer Ankunft nicht an die Regierung dachten; aber Dschingis Khan schert sich nicht darum, er hat Telegraphen, Telefone, Schnellfeuergewehre, Revolver, und es interessiert ihn nicht, was die von ihm gepeinigten Menschen denken und fühlen. Aber das ist bei weitem noch nicht alles. Das Wichtigste vollzieht sich weiterhin zu Hause, in den Regierungssitzen, in den Großstädten, in der Presse und vor allem in den Schulen, von den Universitäten angefangen bis hin zu den Elementarschulen. Alles, was den Menschen nur irgendwie die Augen öffnen könnte, wird verboten; alles, was die Menschen in der Presse, in den Schulen und vor allem in der Religion vernebeln und blenden kann, wird gefördert.

Als unmöglich sollte es uns erscheinen, all das, was getan wurde und getan wird, mit dem Bekenntnis einer Religion, die sich christlich nennt, in Verbindung zu bringen, noch weniger, all diese Grausamkeiten mit der christlichen Religion zu rechtfertigen; aber es gibt eine ganze Berufsgruppe von Menschen, die sich einer solchen Perversion des Christentums widmet, in der alle Arten von Verbrechen, Plünderungen (Steuern, Landbesitz), Folterungen, sogar Morde, Hinrichtungen, Kriege als etwas den Christen gut zu Gesichte Stehendes gelten. Und das scheinbar Unmögliche wird vollbracht. Der Glaube an die Lehre Christi wird durch den blasphemischen Glauben ersetzt, dass Christus Gott sei, Vollbringer der seltsamsten und unnötigsten Wunder, und dass man, wenn man an diesen Christus glaubt, auch an Wunder glauben muss, die von einer imaginären Himmelskönigin, von Reliquien, Ikonen u.s.w. ausgehen. All dies wird als heilige Wahrheit vermittelt, und daneben wird den Menschen als ebenso heilige Wahrheit die sklavische Unterwerfung unter Dschingis Khan eingeflößt. Dieser furchtbare Betrug wird an den Erwachsenen und mit besonderem Eifer und Nachdruck ganz unverfroren an der jüngeren Generation begangen, und zwar unter dem Deckmantel, eine vorsätzliche Lüge namens Gesetz Gottes zu unterrichten. Bei jeder Religionsprüfung – und alle Kinder absolvieren eine solche Prüfung – geschieht immer aufs Neue das Folgende:

Priester: Ist Töten nach dem christlichen Gesetz erlaubt?
Schüler
: Nein.
Priester: Ist es immer unrechtmäßig?
Schüler: Nein, nicht immer.
Priester: Wann ist es rechtmäßig?
Schüler: Es ist erlaubt als Maßnahme nach Verbrechen und wenn es der Verteidigung des Vaterlandes dient.

So hält man es bei allen Prüfungen. Und es gibt keinen russischen Analphabeten im ganzen Reich, der in jenem Alter, in dem er kaum zu denken in der Lage ist, nicht dieser Verlästerung Gottes, dieser Verhöhnung Christi und des menschlichen Verstandes unterworfen worden ist. Und Dschingis Khan, als Vertreter der aufgeklärten Regierung, nutzt das vom Volk geraubte Geld zum Betreiben von öffentlichen Schulen, die solche Dschingis-Khan-Lehrpläne verbreiten sollen.

So wurde das russische Volk physisch und geistig von einem Dschingis Khan mit Telegraphenapparaten unterdrückt und abermals unterdrückt; Dschingis Khan bleibt derweil ruhig und er hofft – jetzt mit Verfassung und Chomjakow und Maklakow und dem Präsidium und der Rechten und der Linken und der Mitte und Gutschkow und dem Klerus und den Zusammenschlüssen des russischen Volkes und der Presse und den Schulen –, alles werde so bleiben wie es ist, wenn er nur nicht mit dem Geld für die Spionage sparen würde. Das geplünderte Geld müsse nur verwandt werden für Spione und für Gefängnisse, Gerichte, Galgen für die Erwachsenen und Unterrichtseinrichtungen für die Kinder zwecks Lehren, Verbreiten und Aufrechterhalten der Verhöhnung der christlichen Lehre in Form einer abscheulichen Fälschung, die man das „Gesetz Gottes“ nennt – so werde dann alles den gewohnten Weg gehen, und der einzige Unterschied zwischen Dschingis Khan mit Telegraphen und dem alten wird sein, dass der neue Dschingis Khan noch mächtiger sein wird als der alte. – Doch zum Unglück von Dschingis Khan und zum Glück des russischen Volkes hat sich Dschingis Khan geirrt. Einerseits, weil die Diener des neuen Dschingis Khan und ihre Taten zu dumm und grobschlächtig waren, andererseits, weil sie in ihrer Gewalttätigkeit die Grenze überschritten haben, über die hinaus die Menschen ihre Versklavung und die Verhöhnung ihres Verstandes nicht mehr ertragen können; schließlich, weil Eisenbahnen, Telegraphen, Presse und alles, was als ein mächtiges Instrument in den Händen von Dschingis Khan liegt, die Menschen auch in demselben Bewusstsein vereinen [können]. – Oder auch, weil das russische Volk, die Mehrheit, das wirkliche Volk, das Bauernvolk, noch nicht durch Schulen verdorben ist. Es ist ihm eigen, die christliche Lehre in jenem wahren Sinne zu verstehen, der die Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen anerkennt – eine Lehre, die nicht nur Mord, sondern auch schon jegliche Gewalt gegeneinander verbietet. Sei es nun von diesem oder von jenem, eines ist gewiss, dass nämlich das russische Volk, das wirkliche russische Volk, in der gegenwärtigen Zeit wegen der an ihm begangenen Verbrechen nicht nur die Achtung vor seiner Regierung, sondern auch den Glauben an die Notwendigkeit jeder Regierung verloren hat und nicht mehr gezwungen werden kann, der bestehenden Regierung zu gehorchen und sich an deren Maßnahmen zu beteiligen. Die kürzliche Fahrt des Zaren mit all ihren abscheulichen Begleitumständen war, wie mir scheint, der Anstoß, der einen flüssigen Körper bei Unterkühlung augenblicklich in einen festen verwandelt.

Diese Fahrt rief, wo immer sie herführte, dasselbe Gefühl hervor: ein Bewusstsein der offensichtlichen Nutzlosigkeit und daher Schädlichkeit des Zaren und all seiner Gehilfen.

Hier kommt der Zar daher gefahren, jener Mann, der an der Spitze der Regierung steht, der Mann, von dem man annimmt: dass er vom ganzen Volk als sein Herrscher anerkannt wird, dass er der Mann ist, der durch seine Macht sowohl Einzelne als auch Gesellschaften und ganze Klassen veredeln kann, dass diese Person dem ganzen russischen Volk heilig ist. Es wird auch angenommen, dass dieser Mann nichts für sich selbst braucht und dass er über alle Wünsche und Ängste erhaben ist. Es scheint, dass es für eine solche Person, wie ehedem zu Zeiten Nikolaisʼ des Ersten, nur ein einziges Gefühl geben kann: das Verlangen, sie zu sehen, das Verlangen, um diese oder jene Gunst zu bitten, das Verlangen, ihr ehrfürchtige Verehrung und Liebe zum Ausdruck zu bringen, – und die Rolle aller, die den Zaren umgeben, kann also nur darin bestehen, die begeisterte Menge, die nach diesem Objekt ihrer ehrfürchtigen Verehrung lechzt, in geordneter Bahn zu halten. So müsste es sein, so war es einmal. Doch wie verhält es sich heute? Wenn der Zar und seine Gehilfen, die Menschen, die ihm am nächsten stehen, die Ausführenden seines Willens, wenn sie alle wissen, dass in dem Volk, über das sie herrschen und unter dem sie sich jetzt bewegen müssen, Tausende, Zehntausende von Menschen wohnen, die den Zaren samt Anhang hassen und begehren, sie zu töten, so versuchen sie, sich und den Zaren vor diesem Hass zu schützen, bilden Dreier- und Viererreihen von geheimen und offiziellen Wachen entlang derjenigen Straßen, die zu durchqueren sind. Wenn der Zar durch sein Reich reitet, stehen drei Reihen von Soldaten und Polizisten, von zum Anlass gekleideten und unentgeltlich arbeitenden Bauern einen Tag, zwei Tage, eine Woche, eine weitere da, warten auf die Durchfahrt und schimpfen auf den, der diese Situation verursacht. Der Tag des Durchzugs wird absichtlich nicht bekanntgemacht, damit diejenigen, die den Zaren töten wollen, nicht wissen, wann er vorbeikommt. Aus demselben Grund gibt es nicht nur einen Zarenzug, sondern mehrere, so dass niemand wissen kann, welcher der echte ist. Und so fliegt dieser Mann schließlich heimlich, wie ein Flüchtiger und Verbrecher, zwischen drei Reihen von Wachen hindurch, und niemand sieht ihn, außer den Beamten und wichtigen Personen, die in den Städten, in denen er Halt macht, anwesend sind, mit denselben Vorsichtsmaßnahmen, die ihn vor Anschlägen auf sein Leben schützen, welche immer und überall zu befürchten sind.

Denn man geht gewöhnlich davon aus, dass das Volk mit stillschweigendem Einverständnis die Notwendigkeit und Wohl­tätigkeit der Zaren-Regentschaft anerkennt. Wenn sich jetzt indessen herausstellt, dass der Zar in seiner Machtfülle das Volk so behandelt hat, dass er es nicht wagt, sich ihm zu zeigen, sondern sich vor ihm versteckt und vor ihm davonläuft wie ein Dieb vor denen, die er beraubt hat, was ist dann der Zweck dieser Machtveranstaltung des Zarentums? Was, wenn die Position der Macht nicht mehr durch die Anerkennung ihrer Notwendigkeit seitens der Menschen gestützt wird, sondern durch Gewalt, Gewehre und Säbel, und die Macht selbst sich vor den Menschen versteckt? Das dies so ist, wird immer offensichtlicher, und es steht nun der großen Mehrheit des Volkes klar vor Augen.

Was ist der Zar, wenn er sich versteckt? Und wenn er sich versteckt, dann sicher nicht umsonst; es bedeutet, dass er meint, er könne, nach dem, was er getan hat und immer tut, nicht anders, als sich zu verstecken. Das ist es, was die große Mehrheit denkt. Ganz zu schweigen von all den Gefangenen, Verbannten, von denen ein großer Teil unschuldig ist – es sind Zehntausende, und sie alle haben – wie die Ermordeten – Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Ehefrauen, Freunde, die nicht anders können, als den einen Verursacher ihres Leids und alle Verantwortlichen zu hassen. Aber ganz abgesehen von diesen Hunderten, Tausenden von Menschen, die solche naheliegenden Gründe haben, den Zaren und seine Helfer zu hassen, ist zu sprechen auch von der Hauptmasse des Volkes, von den Bauern, allen Bauern – mit Ausnahme einer kleinen Anzahl hypnotisierter Menschen –, von allen Bauern, die jetzt durch die Enteignung in eine schlimmere Lage geraten sind als die, in der sie sich vor fünfzig Jahren unter der Leibeigenschaft befanden, den Bauern, die jetzt auf die Befreiung aus dieser Landsklaverei warten, die schlimmer ist als die Leibeigenschaft – sie alle können nicht anders, als den Zaren, den Urheber dieses Unrechts, dessen sie sich bewusst sind, mit denselben unfreundlichen und feindseligen Gefühlen zu betrachten, wie sie all die Zehn- oder Hunderttausende hegen, die als direkt Betroffene unter der Grausamkeit des Zaren und seiner Helfer leiden. Die Bauern wissen, dass alle Versuche, sie aus der Landsklaverei zu befreien, immer an der Härte der zaristischen Regierung gescheitert sind, die ihnen – unter Verhöhnung ihrer berechtigten Forderungen – das Gesetz vom 9. November beschert hat, welches ihrer verzweifelten Lage nur noch mehr Übel hinzufügt. Und deshalb ist es für den Zaren und seine Gehilfen unmöglich, keine Angst zu haben vor den Bauern, die die Regierung hassen, keine Angst davor zu haben, dass die Gereiztheit der Bauern in Hass umschlägt, weil die Herrschenden ihr Leid nicht hören und die schreiende Ungerechtigkeit, unter der sie leiden, nicht korrigieren.

Es ist wahr, dass der unglückliche Dschingis Khan um sich Leute hat, die ihm versichern, das ganze Volke stehe in Treue zu ihm, in jener Festigkeit des Glaubens an Gott und an den Herr­scher, wie er einst im Volk anzutreffen war. Doch leider glauben diese Leute selbst nicht an das, was sie dem Zaren versichern, und sie lenken ihn mit ihren unverschämten Lügen nur von seiner wirklichen Situation ab. So zerstört der unglückliche Dschingis Khan, indem er ihnen Glauben schenkt und sein brutales Vorgehen fortsetzt, am Ende die letzten Grundlagen, auf denen seine Macht beruhen könnte.

Eine große Mehrheit des Volkes hat jetzt mehr oder wenige klar erkannt, wie unnötig, sinnlos und schädlich die Zarenherrschaft ist. Es ist schwer vorauszusehen, welche Folgen dieses neue Bewusstsein haben wird, aber die Folgen, die für die Regierung zwangsläufig katastrophal sein müssen, sind unausweichlich. Es kann sein – so unwahrscheinlich dies auch erscheinen mag –, dass die Macht mit all den äußeren materiellen Mitteln, die sie besitzt, noch einige Zeit durchhält. Es ist auch möglich, dass die Revolution erneut ausbricht und niedergeschlagen wird, weil die den Kampfparteien zur Verfügung stehenden Mittel zu ungleich sind. Aber in beiden Fällen ist es unvermeidlich, dass die Erkenntnis von der Nutzlosigkeit der Regierung und dem verbrecherischen Charakter des Regierungshandelns den Menschen in Russland immer deutlicher wird, und schließlich wird es geschehen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung – nicht wegen irgendwelcher äußerer Ziele, sondern nur, weil ihr moralisches Bewusstsein die Verhältnisse klar beurteilt und als schmerzhaft empfindet – sich außerstande sieht, der Regierung zu gehorchen und die unmoralischen Forderungen zu erfüllen, an denen diese festhält. Sobald dies der Fall ist, sobald es jedem Menschen klar ist, dass das, was man Regierung nennt, nur ein Zusammenschluss von Menschen ist, die ihre Stellung durch eine Abfolge permanenter Verbrechen behaupten, wird es zwangsläufig vorbei sein mit dem Gehorsam gegenüber einer solchen Macht und mit der Unterstützung der Regierungseinrichtungen, durch welche allein die Obrigkeitsmacht fortbestehen kann.

„Man verpflichtet mich, mit den Regierungseinrichtungen zu kooperieren“, wird sich ein Mensch sagen, der sich von allen Täu­schungen hinsichtlich des Regierungsapparates befreit hat (und diese Befreiung vollzieht sich jetzt in Tausenden und Abertausenden von Menschen), „man verpflichtet mich, an der Zahlung und Erhebung von Steuern mitzuwirken, und an den Belangen der Verwaltung, der Justiz, der Polizei mich zu beteiligen; man will mich verpflichten, an den Kriegsangelegenheiten des Staates teilzunehmen. Aber warum sollte ich all das tun, wenn ich weiß, dass alle diese Mitwirkungen mich meiner Würde und meiner Freiheit berauben und mich vor allem zu einem Mitverursacher von Dingen machen, die sowohl dem gesunden Menschenverstand als auch den Anforderungen der grundlegendsten Moral widersprechen.“ Für die Menschen, die verstanden haben, dass sie sich selbst versklaven, indem sie der Macht gehorchen und sich (dadurch) selbst der grundlegendsten und geistigen Güter berauben, kann es also nur eine Haltung gegenüber der Obrigkeitsmacht geben, und zwar diejenige, mit welcher ein Mensch auf alle Forderungen der Regierung immer nur eines antwortet: „Mit mir könnt ihr, solange die Macht in euren Händen ist, machen, was ihr wollt, mich einsperren, verbannen, hinrichten. Ich weiß, dass ich mich euch nicht widersetzen kann und nicht widersetzen werde. Aber ich weiß auch, dass ich mich nicht an all euren bösen Taten beteiligen kann und will, egal wie ihr sie rechtfertigt, egal, welches Deckmäntelchen ihr ihnen umlegt, und egal, womit ihr mir droht.

Eine so ausgerichtete Einstellung zu dem, was man die russische Regierung nennt, kennzeichnet bereits heute das Bewusstsein der meisten russischen Menschen. Und wenn die verrückte, unmenschliche und unvorstellbar grausame Tätigkeit dieser Regierung noch einige Zeit andauert, wird das, was jetzt nur im Bewusstsein ist, unweigerlich auch in die Tat übergehen. Wenn das Bewusstsein in die Tat übergehen wird, so heißt das, die Mehrheit der Menschen wird aufhören, der Regierung zu gehorchen und sich an den Regierungsverbrechen zu beteiligen. Das abscheuliche, veraltete russische System, dessen Existenz seit langem mit den moralischen Anforderungen unserer Welt unvereinbar ist, wird von selbst und ohne Kampf fallen.

6. Dezember 1909.

Russischer Text ǀ Pora ponjatʼ ǀ Пора понять (Es ist Zeit, zu begreifen, 1909). In: L. N. Tolstoi: PSS – Russische Gesamtausgabe in 90 Bänden, Moskau 1928-1957ff (Polnoe sobranije sočinenij), Band 38, Moskau 1936, S. 160-169. – Als Internetressource: https://tolstoy.ru/creativity/publicism/896/

Textquelle ǀ Hochdeutsche Übertragung für die Tolstoi-Friedensbibliothek, Stand 19.02.2023 (www.tolstoi-friedensbibliothek.de) auf der Grundlage einer Übersetzung mit deepl.com/translator (stilistisch bearbeitet; Textkontrolle im Vergleich mit einer Übersetzung von Günter Dalitz; Untertitel redaktionell hinzugefügt, pb).

Vgl. die Übersetzung in der Berliner Ausgabe der ‚Gesammelten Werke‘ ǀ Lew Tolstoi: Begreift doch endlich! (6. Dezember 1909), übersetzt von Günter Dalitz. In: Lew Tolstoi: Philosophische und sozialkritische Schriften. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Gerhard Dudek, Band 15). Berlin: Rütten & Loening 1974, S. 689-701.

Zum Hintergrund ǀ Der Artikel erschien zuerst 1911 in Paris. In Russland kam es zunächst nur zu einer Veröffentlichung 1918 in der Ausgabe des Buchverlags „Mediator“; 1936 erfolgte die textkritische Edition in Band 38 der vollständigen (Jubiläums-)Ausgabe der Gesammelten Werke von Leo Tolstoi in 90 Bänden. In der Online-Edition zur russischen Gesamtausgabe wird über den Text „Pora ponjatʼ ǀ Пора понять“ mitgeteilt: »Leo Tolstoi, 80 Jahre alt, predigt das christliche Gesetz der Liebe und die Befreiung der Völker vom Gehorsam gegenüber der Gewalt der Regierungen und den Lügen der Päpste – im Sommer 1909 erfährt er, wie es uns scheint, besonders viel Leid […] Auf der Suche nach Frieden und Arbeitsmöglichkeiten begibt er sich am 3. September auf das Landgut Krekschino, zu seinem […] Freund Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow […] Hier, am 16. September 1909, begann Leo Tolstoi mit der Niederschrift seines Artikels mit dem Titel „Es ist Zeit zu verstehen“. Den Anstoß zum Schreiben des Artikels gab die Überfahrt von Nikolaus II. nach Livadia, für die erhöhte Sicherheitsvorkehrungen eingeführt wurden. Im Tagebuch, das auf den 16. September datiert ist, heißt es: „Ich habe versucht, darüber zu schreiben, dass ich zu Hause ein Anarchist bin, und es hat nicht geklappt“. – Der ursprüngliche Titel dieses Artikels lautete „Anarchismus“. – Wie aus dem Tagebuch und dem Manuskript hervorgeht, dauerte die Arbeit an dem Artikel den ganzen September über an und wurde am 4. Oktober 1909 abgeschlossen. – Der Titel des Artikels änderte sich im Laufe der Arbeit: Statt „Anarchismus“ hieß es zunächst „Befreiung“, dann „Dschingis Khan mit Telegraphen“ und schließlich „Zeit zum Verstehen“. – […] S. L. Tolstoi erinnert sich: „Mein Vater […] wiederholte oft die folgende Meinung von [Alexander Iwanowitsch] Herzen [1812-1870] über Nikolaus I. und wandte sie allgemein auf die despotische Regierung an: Dschingis Khan war natürlich sehr furchterregend, und es war schwierig, ihn zu bekämpfen. Aber Dschingis Khan ist noch furchteinflößender, wenn er über Kanonen, Eisenbahnen, Telegraphen und ganz allgemein über alle Errungenschaften der modernen Technik verfügt. Es ist fast unmöglich, mit einem solchen Dschingis Khan zu kämpfen“ (S.L. Tolstoi: Mein Vater in den siebziger Jahren. Krasnaja Nowy, 1928). – Herzen äußerte diese Meinung in seinem „Brief an den Zaren Alexander II. […]“, abgedruckt […] 1857: „Hätten wir alle Fortschritte nur in der Regierung gemacht, so hätten wir der Welt ein noch nie dagewesenes Beispiel von Autokratie gegeben, bewaffnet mit allem, was die Freiheit hervorgebracht hat; Sklaverei und Gewalt, unterstützt durch alles, was die Wissenschaft gefunden hat. Es wäre so etwas wie Dschingis Khan mit Telegraphen, Dampfschiffen, Eisenbahnen, […] mit Minier-Geschützen und Congreve-Raketen […]“ (Herzen: Complete Works and Letters, edited by M. K. Lemke. Vol. IX. 1919). – Tolstoi hat diese Idee von Herzen in Gesprächen und in Briefen wiederholt. In einem Brief an B. N. Chicherin vom 31. Juli 1890 […]: „Nicht umsonst sprach Herzen davon, wie schrecklich Dschingis Khan mit Telegraphen, Eisenbahnen und Journalismus gewesen wäre. Bei uns ist genau das jetzt erreicht worden.“ (Briefe von Tolstoi und an Tolstoi. Jubiläumssammlung. 1928). […]« (Lvyonok Yasnopolyanskiy, 07.10.2016: https://tolstoy.ru/creativity/publicism/896/; übertragen mit deepl.com/translator)

Abbildung: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Computers?uselang=de#/media/File:DifferenceEngineNo2.jpg