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Zwei Kriege

[Dve vojny, 1898]

Übersetzt von Ilse Frapan*
(*Zuerst abgedruckt im „Neuen Jahrhundert“)

In der christlichen Welt gehen gegenwärtig zwei Kriege vor sich. Freilich ist der eine schon zu Ende, der andere noch nicht, aber sie bestanden doch eine Weile zu derselben Zeit, und der Gegensatz zwischen ihnen war frappant. Der eine – jetzt schon beendigte – Krieg war der alte ehrgeizige, dumme und grausame, unzeitige, antiquierte, heidnische Krieg, der spanisch-amerikanische, welcher durch die Tötung der einen Gruppe Menschen die Frage lösen wollte, wie und von wem die Anderen regiert werden müssen. Der andere, noch jetzt dauernde Krieg, der nur dann endigen kann, wenn alle Kriege zu Ende sein werden – das ist der neue, selbstverleugnende, auf der Liebe und Vernunft allein gegründete, heilige Krieg, der Krieg gegen den Krieg, welchen der beste, vorgeschrittene Teil der christlichen Menschheit schon lange (wie Victor Hugo das auf einem Kongresse ausdrückte) dem anderen rohen, wilden Teile derselben Menschheit erklärt hat, und welchen ein Häuflein Christenmenschen – die kaukasischen Duchoboren – in der letzten Zeit mit besonderer Kraft und mit Erfolg gegen die mächtige russische Regierung führt.

In diesen Tagen habe ich einen Brief von irgend einem Amerikaner bekommen, welcher mich bittet, ihm zu schicken: „Einige Worte und Gedanken, die meine Gefühle gegenüber der edlen That der amerikanischen Nation, dem Heroismus ihrer Soldaten und Seeleute ausdrücken.“ Dieser Herr, samt der ungeheuren Mehrheit des amerikanischen Volkes, ist vollkommen überzeugt, dass die That der Amerikaner, welche darin besteht, dass sie einige Tausende fast waffenloser (im Vergleich mit der Bewaffnung der Amerikaner waren die Spanier beinahe waffenlos) Menschen geschlagen haben, zweifellos eine edle That „a noble work“ sei, und dass Leute Helden seien, welche selber am Leben und gesund geblieben, nachdem sie eine Menge ihrer Nächsten erschlagen.
Der amerikanische Krieg, abgesehen von jenen Greueln, die die Spanier auf Cuba verübten und die als Vorwand des Krieges gedient haben, der spanisch-amerikanische Krieg selbst gleicht nämlich Folgendem: Ein in den Traditionen falscher Ehre erzogener Greis, der vor Alter seine Kräfte und seinen Verstand verloren hat, fordert, um ein Missverständnis zwischen sich und einem jungen Manne zu lösen, diesen jungen, im vollen Besitz seiner Kräfte stehenden Mann zum Faustkampf; und der junge Mann, welcher nach seiner Vergangenheit, nach dem, was er selbst mehrere Male geäussert, unendlich hoch über solcher Entscheidung der Frage stehen müsste, nimmt die Forderung an, stürzt auf den Greis, der seine Kräfte und seinen Verstand schon verloren hat, los, schlägt ihm die Zähne aus, zerbricht ihm die Rippen und erzählt nachher mit Entzücken von seinen Heldenthaten dem Publikum, das sich freut und den Helden, der den Greis verstümmelt hat, preist.
So ist der eine Krieg, der alle Geister der christlichen Welt beschäftigte. Von dem anderen Kriege spricht niemand, niemand sogar weiss von ihm. Der andere Krieg ist dieser Art: Alle Staaten sagen, die Leute betrügend: „Ihr Alle, die Ihr von mir regiert werdet, lauft Gefahr, von anderen Völkern erobert zu werden; ich bewahre Euren Wohlstand und Eure Sicherheit, und darum verlange ich, dass Ihr mir jährlich Millionen Rubel, die Früchte Eurer Arbeit, abgebt, welche ich für Gewehre, Kanonen, Pulver, Schiffe … zu Eurem Schutze verwenden werde, ausserdem verlange ich, dass auch Ihr selbst in die von mir eingerichteten Organisationen eintretet, wo man aus Euch verstandeslose Teilchen einer ungeheuren Familie, der von mir regierten Armee machen wird. Indem Ihr Euch in dieser Armee befindet, hört Ihr auf, Menschen zu sein, eigenen Willen zu haben, und werdet alles thun, was ich will. Ich will aber vor allem herrschen; das Mittel zum Herrschen aber, dessen ich mich bediene, ist der Totschlag, und darum werde ich Euch töten lehren.“
Und ungeachtet der augenscheinlichen Ungereimtheit der Behauptung, dass die Menschen in Gefahr vor einem Ueberfall von Seiten der Regierungen anderer Staaten seien, welche behaupten, dass sie trotz ihrer Sehnsucht nach dem Frieden in derselben Gefahr stehen; ungeachtet der Unwürdigkeit jener Sklaverei, welcher sich die in die Armee eintretenden Menschen unterwerfen, ungeachtet der Grausamkeit der Thätigkeit, zu welcher sie berufen werden, lassen sich die Leute hintergehen, geben ihr Geld her zu ihrer eigenen Unterdrückung, und sie selber unterdrücken einander.
Und nun erscheinen Leute, welche sagen: „Was Ihr von der uns drohenden Gefahr und von Eurer Sorge, uns davor zu bewahren, sagt, ist Betrug. Alle Staaten versichern, dass sie den Frieden wünschen, und bei alledem rüsten sich Alle gegen einander. Ausserdem – nach dem Gesetz, welches Ihr anerkennt, sind alle Menschen Brüder, und es ist kein Unterschied, diesem oder jenem Staate anzugehören; deswegen erschreckt ein Angriff auf uns von Seiten anderer Staaten uns nicht und hat für uns keine Bedeutung. Die Hauptsache aber ist, dass nach dem Gesetze, welches uns von Gott gegeben ist, und welches auch Ihr anerkennt, nicht nur der Totschlag, sondern auch jede Gewaltthätigkeit verboten ist: und darum können wir und werden wir keinen Anteil an Euren Vorbereitungen zu den Mordthaten nehmen, wir werden Euch kein Geld dazu geben und gehen nicht in die von Euch eingerichteten Versammlungen, wo man den Verstand und das Gewissen der Menschen entstellt, indem man uns in die Gewaltwerkzeuge verwandelt, die jedem bösen Menschen, der dies Werkzeug in die Hände nimmt, gehorsam sind.“
Darin besteht der andere Krieg, welcher schon lange von den besten Menschen der Welt gegen die Vertreter der rohen Gewalt geführt wird und der in der letzten Zeit zwischen den Duchoboren und dem russischen Staat mit besonderer Heftigkeit aufloderte. Der russische Staat hat gegen die Duchoboren alle Werkzeuge aufrücken lassen, mit welchen er kämpfen kann: polizeiliche Verhaftungsmittel, Verbot, den Aufenthaltsort zu verlassen, Verbot des Verkehrs unter einander, Unterschlagung der Briefe, Spionage, Verbot, alles die Duchoboren Betreffende in den Zeitungen zu drucken, Verleumdung derselben in den Zeitschriften, Bestechung, Durchpeitschung, Gefängnis, Zerstörung der Familien. Die Duchoboren aber stellten ihrerseits ihr einziges religiöses Werkzeug auf: milde Vernunft und geduldige Standhaftigkeit; sie sagen: man muss nicht den Menschen mehr als Gott gehorchen, und was Ihr auch mit uns thun möchtet, wir können und werden Euch nicht gehorchen.
Man preist die spanischen und amerikanischen Helden jenes wilden Krieges, die in dem Wunsch, sich vor den Leuten auszuzeichnen, Belohnungen und Ruhm zu erringen, sehr viele Menschen getötet haben oder selber während der Tötung ihrer Nächsten gestorben sind.
Aber niemand spricht, niemand weiss sogar von jenen Helden des Krieges gegen den Krieg, welche, ohne von irgend jemand gesehen und gehört zu werden, unter den Peitschen oder in stinkenden Kerkern oder in der schweren Verbannung starben oder sterben und dennoch bis zu den letzten Zügen dem Guten und der Wahrheit treu bleiben.
Ich kenne Dutzende solcher Märtyrer, die schon gestorben sind, und Hunderte ebensolcher, die, zerstreut durch die ganze Welt, in diesem Märtyrer-Bekenntnis der Wahrheit fortfahren.
Ich kenne einen Drosschin, einen Lehrer-Bauer, welcher im Strafbataillon zu Tode gequält ward; ich kenne einen Anderen, Isumtschenko, den Kameraden von Drosschin, der, nachdem er das Strafbataillon durchgemacht hatte, bis ans Ende der Welt verbannt ward; ich kenne einen Olchowik, einen Bauer, der den Militärdienst ablehnte und dafür ins Strafbataillon verurteilt ward. Er bekehrte auf dem Dampfschiff einen Soldaten von der Bedeckung, Sereda; Sereda kam – nachdem er, was ihm Olchowik von der Sünde des Kriegsdienstes sagte, verstanden – zu seiner Obrigkeit und sprach, wie die alten Märtyrer zu sprechen pflegten: „Ich will nicht mit den Marternden sein, vereinigt mich mit den Märtyrern“, und man fing an, ihn zu quälen, schickte ihn ins Strafbataillon und nachher in die Provinz Jakutsk. Ich kenne Dutzende von Duchoboren, deren viele gestorben, blind geworden, und dennoch unterwarfen sie sich nicht den gottwidrigen Forderungen.
In diesen Tagen habe ich einen Brief über einen jungen Duchobor gelesen, der allein, ohne Kameraden, in das Regiment, das in Samarkand stand, geschickt worden war. Wieder dieselben Forderungen seitens der Obrigkeit und dieselben einfachen, unabwendbaren Antworten: „Ich kann nicht das thun, was meinem Glauben an Gott zuwider ist.“ – „Wir werden Dich zu Tode quälen.“ – „Das ist Eure Sache. Thut das Eure und ich werde das meine thun.“
Und dieser zwanzigjährige, allein in fremdes Land verschlagene Knabe, mitten unter den ihm feindlichen Leuten – reichen, starken, gebildeten Leuten, die alle ihre Kräfte darauf richten, ihn zu unterwerfen, unterwirft sich nicht und vollbringt seine grosse That.
Man sagt: „Das sind vergebliche Opfer. Die Leute werden zu Grunde gehen, die Lebensordnung aber bleibt dieselbe.“ Ebenso, glaube ich, sprachen die Leute auch von der Vergeblichkeit des Opfers Christi, wie auch aller Märtyrer der Wahrheit. Die Leute unserer Zeit, besonders die Gelehrten, sind so roh geworden, dass sie ihrer Rohheit wegen die Bedeutung und Wirkung geistiger Kräfte nicht begreifen, – ja sie nicht einmal begreifen können. Eine Ladung von 250 Pud Dynamit, auf einen Haufen lebendiger Menschen geschleudert, – das verstehen sie und sehen darin Kraft; aber der Gedanke, die Wahrheit, die zur Verwirklichung gelangte, die zum Märtyrertum im Leben durchgeführte, welche Millionen zugänglich ist – das ist nach ihrem Verständnis keine Kraft, weil sie nicht kracht und man keine zerbrochenen Knochen und keine Blutlachen sieht. Die Gelehrten (freilich die schlechten Gelehrten) verwenden die ganze Macht ihrer Gelehrsamkeit darauf, zu beweisen, dass die Menschheit wie eine Herde lebt, welche nur durch die ökonomischen Bedingungen geleitet wird, und dass der Verstand ihr nur zum Spass gegeben ist; aber die Regierungen wissen, was die Welt bewegt, und darum betragen sie sich, unfehlbar nach dem Instinkt der Selbsterhaltung, am eifersüchtigsten gegen diejenigen geistigen Kräfte, von welchen ihre Existenz oder ihr Untergang abhängt. Eben darum waren und sind noch jetzt alle Kräfte der russischen Regierung darauf gerichtet, die Duchoboren unschädlich zu machen, sie zu isolieren, ins Ausland zu verbannen.
Aber trotz aller dieser Bemühungen öffnete der Kampf der Duchoboren Millionen die Augen. Ich kenne Hunderte von Menschen, von alten und jungen Militärs, welche Dank den Verfolgungen der sanften, arbeitsamen Duchoboren anfingen, die Gesetzmäßigkeit ihrer Thätigkeit zu bezweifeln; ich kenne Menschen, die zum ersten Mal in Nachdenken verfielen über das Leben und über die Bedeutung des Christentums, nachdem sie das Leben dieser Menschen, die Verfolgungen, welchen sie unterworfen worden, gesehen oder gehört hatten. Und die Regierung, die Millionen von Menschen regiert, weiss das und fühlt, dass sie ins Herz selbst getroffen ist. –
Solcher Art ist der andere Krieg, welcher in unserer Zeit geführt wird, und solcher Art sind seine Folgen. Und seine Folgen sind wichtig, nicht nur für die russische Regierung allein. Jegliche Regierung, die auf Krieg und auf Gewalt gegründet ist, ist von dieser Waffe getroffen. Christus hat gesagt: „Ich habe die Welt besiegt.“ Und er hat sie wirklich besiegt, wenn die Menschen an die Macht dieser ihnen verliehenen Waffe glauben werden.
Diese Waffe besteht darin, dass jeder Mensch dem eigenen Verstande und dem eigenen Gewissen folgt. Das ist so einfach, so zweifellos und verbindlich für jeden Menschen. „Ihr wollt mich zu einem Teilnehmer am Totschlage machen. Ihr verlangt von mir Geld für die Verfertigung von Mordwerkzeugen, und Ihr wollt, dass ich selbst an der organisierten Mörderbande teilnehme,“ sagt der verständige Mensch, der sein Gewissen nicht verkauft und nicht verdunkelt hat, „aber ich bekenne dasselbe Gesetz, welches auch Ihr bekennt und in welchem von jeher nicht nur Totschlag, sondern auch jegliche Feindschaft verboten ist, und darum kann ich Euch nicht gehorchen.“
Und eben dieses einfache Mittel allein besiegt die Welt.

Textquelle ǀ Leo Tolstoj: Zwei Kriege [Dve vojny, 1898]. Übersetzt von Ilse Frapan. In: Der Sozialist. Organ für Anarchismus-Sozialismus. VIII. Jahrgang, Nr. 44 vom 29. Oktober 1898, S. 226-227. – Texterfassung für die Tolstoi-Friedensbibliothek: Peter Bürger. Ein Dank für die Bereitstellung der Quelle geht an die Gustav Landauer Initiative.

Für die Editionen unserer Tolstoi-Friedensbibliothek wird auch noch eine Übersetzung des vollständigen Textes nach der russischen Gesamtausgabe in 90 Bänden (Moskau 1928-1957ff: Polnoe sobranije sočinenij) vorbereitet. Zugang zum russischen Text (Dve vojny, August 1898) nebst Hinweisen zur Editionsgeschichte und Zusätzen nach Tolstois Handschriften z. B. hier: http://tolstoy-lit.ru/tolstoy/publicistika/publicistika-6.htm (die beste uns bekannte Übersetzungshilfe: https://www.deepl.com/translator).