Auszug aus Tolstois Schrift „Die Annexion Bosniens und der Herzegowina“
(O prisojedinenii Bosnii I Gerzogowiny k Awstrii, 1908)
[…] Das, was man heute Patriotismus nennt, ist einerseits nur eine gewisse Stimmung, die durch die Schulen, die Religion und eine käufliche Presse beständig im Volke erzeugt und in einer für die Regierung notwendigen Richtung wachgehalten wird, andererseits ist der Patriotismus nichts wie ein durch ungewöhnliche Mittel von den herrschenden Klassen hervorgerufener Zustand der Erregung bei den moralisch und geistig am tiefsten stehenden Schichten der Bevölkerung, der nachher für den Ausdruck des dauernden Willens des ganzen Volkes ausgegeben wird. Der Patriotismus der unterjochten Völker bildet darin keine Ausnahme. Ebensowenig ist er den arbeitenden Massen eigentümlich und wird ihnen nur von den herrschenden Klassen eingeimpft.
Man kann nie wissen, ob das, was einem Menschen passiert, zu seinem Schaden oder zu seinem Vorteil ist. Nur von einer Sache kann man stets wissen, daß sie dem Menschen zum Vorteil gereicht, und zwar von der Liebe zu den Menschen. Die Liebe erhöht zweifellos immer das Glück im Leben eines Menschen.
Gott wollte, daß wir glücklich sind, deshalb pflanzte Er uns das Bedürfnis nach Glück ein. Doch Er wollte auch, daß wir alle gemeinsam und nicht nur als Einzelne glücklich seien, – daher sind die Menschen unglücklich, weil sie nicht nach dem gemeinsamen Glück streben, sondern nur nach ihrem persönlichen. Das höchste Glück eines Menschen aber ist, geliebt zu werden, und deswegen ist in jedem Menschen dieser Wunsch lebendig. Um aber geliebt zu werden, muß man offenbar selbst lieben.
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[„]Aber wenn sich alles einmal so verhält, so sind doch nicht nur einige wenige, oder ein paar hundert Menschen dazu notwendig, um dieses zu vollbringen, das heißt, die Ordnung des menschlichen Lebens zu verändern, sondern alle Menschen oder zum mindesten die große Mehrheit. Solange aber die Mehrheit die Forderungen des Lebens nicht auf diese Weise versteht, kann sich diese Lebensordnung nicht ändern.“
So sprechen die Menschen und fahren fort, wie bisher im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand und zu ihrem Gewissen zu leben.
Doch so sprechen nur solche Menschen, die sich unter dem Einfluß des patriotischen und staatlichen Aberglaubens befinden. Solche Leute glauben, daß ein außerhalb der staatlichen Ordnung stehender Mensch etwas Undenkbares sei: ehe er Mensch sei, wäre er vor allem Angehöriger eines Staates. Solche Menschen vergessen jedoch, daß jedermann, noch ehe er Österreicher, Serbe, Türke, Chinese ist, ein Mensch, das heißt ein vernunftbegabtes, liebendes Wesen ist, dessen Bestimmung durchaus nicht darin besteht, die Interessen des serbischen, türkischen, chinesischen oder russischen Reiches zu wahren, oder an der Zerstörung eines dieser Reiche teilzunehmen, sondern nur darin, seine menschliche Bestimmung zu erfüllen, in dieser kurzen Spanne Zeit, die er hier aus Erden zu leben hat.
Das ist es, wovon die Lehre Christi zum Menschen redet. Sie spricht von seiner ewigen Bestimmung und darum weiß sie nichts, darum will und kann sie nichts wissen von jenem vorübergehenden, zufälligen Zustand, in dem sich der Mensch, ob er nun im Staat, oder außerhalb des Staates lebt, in einer gewissen geschichtlichen Periode befindet. Die Lehre Christi offenbart dem Menschen seine Bestimmung im Leben und sein Heil, das sich nicht im Zusammenhang mit irgend welchen äußern Institutionen verändern kann. Sie sagt nichts darüber aus, was in Zukunft aus jenen Menschenmengen, die sich Völker und Staaten nennen, werden wird, sie kann nichts darüber sagen, weil das niemand weiß oder wissen kann, sie sagt nur das eine, was ein jeder fühlt und was ein jeder weiß: daß für den Menschen nichts als Gutes aus der Befolgung seines eigenen Gesetzes, des Gebotes der Liebe und Einigkeit, erwachsen kann.
Man sagt: „Die Regierungen werden einen solchen Ungehorsam nicht dulden, sie werden die sich Widersetzenden bestrafen, wenn sie ihre Befehle nicht erfüllen.“ Erstens können aber einen Menschen, der das von Christus geoffenbarte Heil erkannt hat, das in der Erfüllung des Gebotes der Liebe liegt, keine Strafen schrecken, wenn er nur fest an das ihm geoffenbarte Gesetz glaubt, das ihm das Heil des Lebens brachte. Und zweitens ist die Drohung mit grausamen Strafen seitens jener Leute, die die staatliche Ordnung verteidigen, nicht so schrecklich, wie es scheinen mag, – schon aus dem Grunde, weil Leute, die an dem staatlichen Aberglauben festhalten, der Meinung sind, daß die Regierung aus abstrakten Wesen bestehe, welche besondere Eigenschaften besitzen und ihre Entschlüsse mit besonderen übermenschlichen Mitteln auszuführen imstande sind! Doch solche Wesen gibt es nicht, und wie sie sich auch nennen mögen, sie bleiben dennoch Menschen, ebensolche Menschen wie jene, die sie quälen und bedrücken.
Wenn die Menschen, die die Teilnahme an jeder Gewalt zurückweisen, nun christlich handeln, wenn sie gegen die Gewaltmenschen nichts anderes als Liebe zeigen, dann werden sich immer weniger und weniger Leute finden, sowohl unter den Beamten der Regierung, welche die Befehle erteilen, wie unter denen, die sie ausführen, die imstande sind, solche Menschen zu berauben, zu quälen und zu töten, welche eher bereit sind, im Namen der Liebe eine Vergewaltigung zu erleiden, als an ihr sich zu beteiligen.
Es ist ganz begreiflich, daß die Leute, die sich Regierung nennen, Menschen, welche ihre Befehle nicht erfüllen wollen, unaufhörlich strafen und quälen können, wenn sie in der Grausamkeit und in den Verbrechen jener, die sie strafen – der fremden Völkerschaften, die ihr patriotisches Gefühl verteidigen, der Revolutionäre usw. – eine Rechtfertigung für ihre Handlungsweise finden. Doch Menschen bleiben Menschen, ob sie sich nun Imperatoren, Senatoren, Richter, Generale, Gouverneure, Spitzel, Polizisten oder Henker nennen, und man kann sich weder solche Imperatoren, noch solche Richter, Henker und Spitzel vorstellen, auf die die Wahrheit und Liebe ohne Eindruck bliebe, in deren Namen Menschen voller Sanftmut jede Gewalt erdulden und eine Teilnahme an dieser Gewalt zurückweisen.
XII.
Man sagt: „Der Mensch kann nur um sein Wohl besorgt sein, und deswegen kann er nicht sein Wohl für das Wohl anderer Menschen opfern.“ Das wäre richtig, wenn der Mensch, der sein körperliches Wohl opfert, nicht darin ein unvergleichlich höheres Wohl fände. Wenn der Mensch liebt und für das Wohl anderer Menschen tätig ist, so findet er darin sein höchstes Glück.
Der Patriotismus ist in seinem einfachsten, deutlichsten und in seinem absolutesten Sinne für die Herrschenden nichts anderes, als ein Mittel zur Erreichung ihrer herrschsüchtigen und ehrgeizigen Pläne; für die Beherrschten aber bedeutet er nur – den Verzicht auf ihre Menschenwürde, ihren Verstand und ihr Gewissen; die sklavische Unterordnung unter die Herrschenden. Und so wird er auch überall verkündigt, wo er verkündigt wird. Der Patriotismus ist die Sklaverei.
Der Patriotismus konnte in der alten Welt eine segensreiche Wirkung haben, weil er vom Menschen verlangte, er solle dem höchsten Ideal der damaligen Zeit, dem Ideal des Vaterlandes dienen. Doch wie kann der Patriotismus in unserer Zeit segensreich wirken, wo er vom Menschen gerade das Gegenteil von dem verlangt, was nicht nur das Ideal unserer Religion, sondern auch unserer öffentlichen Meinung bildet – wenn er nicht die Anerkennung der Gleichheit und der Brüderlichkeit aller Menschen verlangt, sondern fordert, daß man einen bestimmten Staat und ein bestimmtes Volk als das vor allen anderen Staaten und Völkern bevorzugte anerkenne.
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Wenn man mich daher um Rat fragt, was man tun soll – ob mich nun ein Indier fragt, wie er gegen die Engländer, oder ein Serbe, wie er gegen Oesterreich, oder ob mich Perser und Russen fragen, wie sie gegen ihre gewalttätigen persischen und russischen Regierungen kämpfen sollen – ich kann nur das eine antworten und kann nichts anderes glauben, als daß es heil- und segensvoll für alle ist. Ich antworte: man soll sich mit aller Kraft vom verderblichen Aberglauben des Patriotismus und des Staates befreien und in jedem Menschen seine Menschenwürde erkennen, die keine Abweichung vom Gesetze der Liebe duldet, die nichts von Staat und von Sklaverei weiß, die keine besonderen Taten, sondern nur das Einstellen jener Handlungen fordert, welche das Böse stützen und unter welchen die Menschen leiden.
Was die Bosnier, die Herzegowiner, die Indier, Serben, Russen und alle anderen künstlich abgestumpften und betäubten Völker tun sollen, die ihre Menschenwürde [aus den Augen] verloren haben? Ich kann ihnen allen nur dasselbe sagen, was jene Serbin ihrem Sohne sagte: sie sollen leben nach dem göttlichen Gesetz und nicht nach den Gesetzen der Menschen.
Das ist möglich, einfach und leicht für alle Menschen, deren Erkenntnis noch nicht durch jene Dinge korrumpiert ist, die man Politik und Wissenschaft nennt. Zum Glück ist das Bewußtsein der Mehrheit, besonders der slavischen Völker, noch unverdorben; die Mehrheit der einfachen, arbeitenden Menschen ne sont pas encore assez savants pour raisonner de travers* (*ist noch nicht gebildet genug, um ein korruptes Urteil zu haben. Montaigne), sie kann noch jene einfache, dem Menschenherzen so verständliche Wahrheit begreifen, daß in einem jeden Menschen ein allen gemeinsames geistiges Prinzip lebt, daß sich deshalb der Mensch nicht dem Willen eines anderen Menschen, oder dem Willen anderer Leute, wie sie sich auch nennen mögen: Imperatoren, Polizisten oder Henker, unterordnen kann.
Unterordnen kann sich der Mensch nur ein und demselben höchsten Gesetz der Liebe, das sowohl dem Einzelnen, als auch der ganzen Menschheit, das höchste Wohl gewährt. Nur die Erkenntnis des höchsten geistigen Prinzips im Menschen und der daraus fließenden Erkenntnis seiner echten Menschenwürde kann und wird die Menschen von der Unterdrückung der einen durch die anderen befreien. Und diese Erkenntnis lebt schon in der Menschheit und kann jeden Augenblick zur Tat werden. Jaßnaja Poljana, am 5. / 18. November 1908.
Textquelle (Auszug) ǀ Leo N. Tolstoi: Die Annexion Bosniens und der Herzegowina. Nach dem russischen Manuskript übersetzt von Edmund Rot. 1.-5. Tausend. Berlin: Hermann Walther Verlagsbuchhandlung G.m.b.H. 1909. [48 Seiten] – Überschrift des Auszugs hier redaktionell (pb). [Russischer Originaltext der Schrift ǀ Leo Tolstoi: O prisojedinenii Bosnii I Gerzogowiny k Awstrii. In: Lew Tolstoi: Polnoje sobranije sočinenij w 90 tomach (Russische Gesamtausgabe in 90 Bänden, Moskau 1928ff). Band 37. Moskau: ‚Chudoshestwennaja Literatura‘ Verlag 1956, S. 222-242.] Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Le_Petit_Journal_Balkan_Crisis_(1908).jpg