Zum Inhalt springen

„Nikolai Palkin“

Der Zar als Peitschenmann – Nachbetrachtungen zum Gespräch mit einem betagten Soldaten im Jahr 1886

Nikolaus I. Pawlowitsch (1796-1855), ein Nachfahre des Herzogs Karl Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf (1700-1739), gelangte 1825-1855 als Zar zu traurigem „Ruhm“. Von ihm und einem betagten Veteranen erzählt Tolstoi in dieser 1886/87 entstandenen Skizze wider die Staatsmacht.

Übertragung für die Tolstoi-Friedensbibliothek, Stand 08.02.2023

Wir haben die Nacht mit einem fünfundneunzigjährigen Soldaten verbracht. Er diente ehedem unter Alexander I. und Nikolai.
„Was, du willst sterben?“

„Sterben? Natürlich denke ich daran. Früher hatte ich Angst, aber jetzt bitte ich Gott nur um eine Sache: Ich wünsche, dass Gott mir die Reue und den Empfang der heiligen Kommunion gewährt. Es gibt viele Sünden.“
„Welche Sünden denn?“
„Welche Sünden, fragst du? Wann habe ich denn gedient? Unter Nikolai; gab es damals etwa einen Dienst, wie es ihn heute gibt? Was war es denn? Mein Gott! Es ist gruselig, nur daran zu denken. Ich war schon in der Zeit von Alexander dabei. Alexander wurde von den Soldaten gelobt, sie sagten, er sei gnädig.“

Ich dachte an die letzten Tage von Alexanders Herrschaft, als von hundert Männern zwanzig zu Tode geprügelt wurden. Im Vergleich zu Nikolai sollte Alexander jetzt als barmherzig gelten?

„Ich musste unter Nikolai Soldat sein“, sagte der alte Mann. Sofort wurde er lebendig und begann zu erzählen.

„Wie es damals zuging? Wegen fünfzig Stockschlägen wurden die Hosen erst gar nicht heruntergezogen; es gab hundertfünfzig, zweihundert, dreihundert Hiebe … die Leute wurden zu Tode gepeitscht.“

Er sprach mit Abscheu und Entsetzen, doch nicht ohne Stolz über seine Jugendtage.

„Ja, es verging keine Woche, in der nicht ein oder zwei Männer des Regiments mit Stöcken zu Tode geprügelt wurden. Heutzutage wissen die Leute nicht mehr, was Stöcke sind; aber damals war es ein Wort, das sie nie aus dem Mund nahmen: Stöcke, Palki, wie es hieß! Unsere Soldaten gaben Nikolai den Beinamen Palkin. Nikolai Pawlowitsch, sie nannten ihn aber Nikolai Palkin [‚Nikolaus Stockmann‘]. So ist er zu seinem Spitznamen gekommen.

Wenn man sich an diese Zeiten erinnert“, fuhr der alte Mann fort, „sie sind lange vorbei, unsereins muss sterben, und es ist ein Grausen, sich daran zu erinnern. Sünden gab es viele. Es war eine eigene Angelegenheit“, sagte der alte Mann. „Man bekam hundertfünfzig Stockschläge für einen Soldaten“ (der betagte Veteran war damals Unteroffizier und Feldwebel, nach heutigem Verständnis Anwärter), „und dem Soldaten ließ man dann zweihundert angedeihen. Die eigenen Wunden heilen nicht davon, aber man quält ihn – das ist die Sünde.

Unteroffiziere haben Soldaten oft zu Tode geprügelt. Wenn er einen Schlag oder eine Faust an der richtigen Stelle abbekam: an der Brust oder am Kopf, war der Soldat tot. Und es gab nie eine Strafe. Der Soldat starb durch Totschlagen, und der Vorgesetzte schrieb: ‚Nach Gottes Ratschluß verschieden.‘ Und das warʼs. Hat man das damals schon verstanden? Alle haben nur an sich selbst gedacht. Und jetzt wälzst du dich am Herd hin und her, kannst nachts nicht schlafen, denkst nach und stellst dir alles noch einmal vor. Gut, wenn man zeitig das christliche Abendmahl einnehmen kann und dir vergeben wird, aber es bleibt schrecklich. Wenn du dich an all das erinnerst, was du selbst erlitten hast und was Menschen angetan wurde, dann brauchst du die Hölle nicht, es ist schlimmer als die Hölle …“

Ich stellte mir lebhaft vor, woran sich dieser dem Sterben entgegensehende Mann in seiner Alterseinsamkeit erinnern musste, und wurde selbst in Schrecken versetzt. Ich dachte an die Grausamkeiten, die er, abgesehen von den Stockschlägen, mitmachen musste. Das Spießrutenlaufen durch die Reihen, die Erschießungen, das blutige Niedermachen und Ausplündern ganzer Städte und Dörfer im Krieg (er hatte im polnischen Krieg mitgekämpft), und ich begann, ihn darüber auszufragen. Ich fragte ihn, wie es war, wenn ein Soldat durch die Reihen gejagt wurde.

Er berichtete ausführlich über dieses schreckliche Verfahren. Wie ein verurteilter Mann, an Gewehren gefesselt, durch die Reihen der mit Spießen ausgestatteten Soldaten geführt wurde, wie jeder zuschlug, und die Offiziere hinter den Soldaten auf- und abliefen und riefen: „Härter zuschlagen!“

„Härter zuschlagen!“, rief der alte Mann mit herrischer Stimme, offensichtlich nicht ohne Freude daran, sich an diesen Kommandoton der Jugendzeit zu erinnern und ihn vorzuführen.

Er erzählte alle Einzelheiten ohne jegliche Reue, so als ob er erzählen würde, wie Ochsen geschlachtet und Rindfleischstücke gebraten werden. Er erzählte, wie das Opfer zwischen den Reihen hin- und hergeführt wurde, wie der Gemetzelte geschleift wurde und auf die Bajonette fiel, wie die blutigen Narben zum ersten Mal zu sehen waren, wie sie sich kreuzten, wie die Narben allmählich zusammenwuchsen, Blut spritzte und spritzte, blutiges Fleisch in Fetzen flog, Knochen entblößt wurden, der unglückliche Mann zuerst schrie und dann dumpf bei jedem Schritt und jedem Schlag stöhnte – bis zum Verstummen; wie der Arzt, der eigens dafür abgestellt wurde, herantritt und den Puls fühlt, sich den Mann von oben anschaut und entscheidet, ob er noch geschlagen werden kann oder ob er bis zu einem anderen Zeitpunkt warten muss, wenn er wieder geheilt ist, sodass die Folter erneut beginnen und die Vollzahl der Schläge beendet werden kann, die ihm nach dem Diktat einiger von Palkin angeführten Bestien zu verabreichen sind. Der Arzt setzt sein Wissen ein, um sicherzustellen, dass der Mann nicht stirbt, bevor er all die Qualen, die sein Körper ertragen kann, zur Gänze erlitten hat.

Der alte Soldat erzählte weiter, wie man den Unglücklichen, wenn er nicht mehr laufen kann, auf einen Militärmantel legt und er – mit einer blutgetränkten Kissenlage oben auf dem zerfetzten Rücken – ins Lazarett getragen wird, damit sie ihm – nach der Wiederherstellung – die restlichen tausend oder zweitausend Stockschläge geben können, die ihm noch fehlen und die er nicht sofort beim ersten Spießrutenlauf ertragen konnte.

Er erzählte, wie die Verurteilten um den Tod bitten und man es ihnen nicht sofort gewährt, sondern sie kuriert und dann ein zweites, manchmal ein drittes Mal schlägt. Der Überlebende wird im Krankenhaus behandelt und muss weiteren Qualen entgegensehen, die ihn zu Tode bringen werden.

Der Verurteilte wird zum zweiten oder dritten Mal zur Tortur geführt und dann totgeprügelt. Und das alles, weil er entweder vor Stockschlägen weglief oder genug Mut und Selbstaufopferung besessen hatte, um sich im Namen seiner Kameraden darüber zu beschweren, dass sie schlecht ernährt waren und die Vorgesetzten ihre Rationen stahlen.

Er erzählte mir das alles, und als ich versuchte, in ihm Reue angesichts dieser Erinnerungen zu erwecken, war er zunächst überrascht, dann aber schien er Angst zu haben.

„Nein“, sagte er, „es kam doch vom Gericht. Bin ich dessen schuldig? Nein, gemäß Gerichtsurteil, gemäß dem Gesetz wurde das vollzogen.“

Mit der gleichen Gelassenheit und auch ohne Reue erinnerte er sich an die Schrecken der Kriege, an denen er teilgenommen und die er in der Türkei und in Polen hautnah miterlebt hatte. Er sprach von den getöteten Kindern, vom Hungertod und Kältetod der Gefangenen, von der Ermordung eines kleinen polnischen Jungen, der sich an einen Baum geklammert hatte und durch sein Bajonett aufgespießt wurde.

Und als ich nachfragte, ob sein Gewissen durch diese Taten belastet sei, verstand er mich überhaupt nicht mehr. Es war doch Krieg, alles geschah nach dem Gesetz, für den Zaren und das Vaterland. In seinen Augen waren diese Taten nicht nur nicht schlecht, sondern im Gegenteil ein Erweis von Tapferkeit und Tugend, gut zur Sühne für seine Sünden. Die Tatsache, dass er unschuldige Kinder und Frauen ruiniert und getötet, in der Reihe des Spießrutenlaufes Menschen zu Tode geschlagen, in ein Krankenhaus gebracht und zur erneuten Folter wieder zurückgeschleppt hat – all das quält ihn nicht, es ist, als ob es gar nicht sein Werk wäre. Es war, als ob jemand anderes es getan hätte, nicht er.

Er hat einige persönliche Sünden begangen, als er Menschen ohne das, was er Gesetz nannte, schlug und quälte; diese Sünden peinigen ihn, und er hat viele Male die heilige Kommunion genommen, um sie zu sühnen, und er hofft, auch vor seinem Tod das Abendmahl zu empfangen, in der Erwartung, dass es die Sünden sühnen wird, die sein Gewissen quälen. Aber dennoch leidet er Qualen, und die Bilder der Schrecken der Vergangenheit lassen ihn nicht los.

Was würde mit diesem alten Mann geschehen, wenn er verstehen könnte, was ihm an der Schwelle des Todes so klar sein sollte: dass zwischen all den Taten seines Lebens – jenen, die er nach eigenem Verständnis „unter dem Gesetz“ ausgeführt haben will, und allen anderen – ein Unterschied nicht besteht; dass alle seine Taten solche sind, die er begehen oder nicht begehen konnte (zu schlagen oder nicht zu schlagen, zu töten oder nicht zu töten – das lag immer in seiner Macht); dass alle seine Taten seine Sache sind, dass es jetzt, am Vorabend seines Todes, keinen Vermittler zwischen ihm und Gott gibt und geben kann, auch damals nicht geben konnte, als man ihn zwang, Menschen zu quälen und zu töten. Was wäre mit ihm geschehen, wenn er jetzt verstanden hätte, dass er keine Menschen schlagen und töten darf und dass es ein Gesetz, seine Brüder zu schlagen und zu töten, nie gegeben hat und auch niemals geben kann. Hätte er erkannt, dass es nur ein ewiges Gesetz gibt, das er immer gekannt hat und nicht verfehlen konnte – ein Gesetz, das Liebe und Mitleid für die Menschen verlangt, und dass das, was er nun ‚Gesetz‘ nannte, eine dreiste, gottlose Täuschung ist, der er nicht hätte erliegen dürfen. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, was er sich in seinen schlaflosen Nächten am Herd ausgemalt hätte und wie verzweifelt er gewesen wäre, wenn er dies erkannt hätte. Seine Qualen wären schrecklich gewesen.

Warum also auch ihn quälen? Warum das Gewissen eines sterbenden alten Mannes bedrängen? Besser ist, es zu beruhigen. Warum sollte man die Leute aufregen, indem man etwas zur Sprache bringt, das bereits vergangen ist?

Vorbei? Was ist Vergangenes? Wie kann etwas, das wir nicht nur nicht ausrotten und heilen konnten, sondern das wir uns nicht einmal trauen beim Namen zu nennen, vorbei sein? Wie kann eine grausame Krankheit verschwinden, nur weil wir sagen, dass sie verschwunden ist? Sie verschwindet nicht und wird auch nie verschwinden, und sie kann nicht verschwinden, solange wir nicht zugeben, dass wir krank sind. Um die Krankheit zu heilen, muss man sie zunächst erkennen. Und das tun wir nicht. Nicht nur, dass wir das nicht tun, sondern all unsere Bemühungen werden darauf verwendet, sie nicht zu sehen, sie nicht zu benennen. Die Krankheit geht nicht weg, sondern verändert sich nur, geht tiefer ins Fleisch, ins Blut, in Knochen und Mark.

Die Krankheit besteht darin, dass Menschen, die von Geburt an gutherzig und sanftmütig sind – Menschen mit Liebe und Mitleid im Herzen – als Menschen anderen Menschen schreckliche Grausamkeiten zufügen, ohne zu wissen, warum und zu welchem Zweck. Unser russisches Volk, sanftmütig, gütig, ganz vom Geist der Lehre Christi durchdrungen, bestehend aus Leuten, die es in ihrer Seele bereuen, Menschen mit Worten beleidigt, das Letzte nicht mit den Armen geteilt und kein Mitleid mit Gefangenen gehabt zu haben, diese Leute verbringen die beste Zeit ihres Lebens damit, ihre Brüder zu töten und zu quälen, und bereuen diese Taten nicht nur nicht, sondern halten diese Taten entweder für tapfer oder zumindest für so notwendig wie Essen oder Atmen. Ist das nicht eine schreckliche Krankheit? Und ist es nicht die Pflicht eines jeden, alles Menschenmögliche zu tun, um sie zu heilen, und das Vordringlichste, die Krankheit aufzuzeigen, sie zu erkennen, sie beim Namen zu nennen.

Der alte Soldat hat sein ganzes Leben damit verbracht, andere Menschen zu foltern und zu töten. Wir sagen: Warum ein Gedenken dran? Der Soldat hält sich nicht für schuldig, und diese schrecklichen Taten – Stockschläge, Spießrutenläufe und andere – sind vergangen; warum sich an das Alte erinnern? Damit ist es jetzt vorbei. Da gab es Nikolai Palkin. Warum sich daran erinnern? Nur ein alter Soldat erinnerte sich daran, bevor er starb. Warum die Menschen verärgern? Das nämliche haben sie unter Nikolaus über Alexander gesagt. Das Gleiche wurde unter Alexander über Pauls Taten gesagt. So wurde es auch unter Paul über Katharina gesagt. So auch unter Katharina über Peter, und so weiter. Warum sich erinnern? Warum sich erinnern? Wenn ich Fallsucht oder eine sonstige gefährliche Krankheit hatte und geheilt oder von ihr befreit wurde, werde ich immer gerne daran zurückdenken. Ich werde mich nur dann nicht daran erinnern, wenn ich krank bin und es mir noch schlechter geht und ich mir etwas vormachen will. Und wir erinnern uns nicht daran, nur weil wir wissen, dass wir immer noch genauso krank sind, und uns selbst etwas vormachen wollen.

Warum den alten Mann aufregen und die Leute verärgern? Stockhiebe und Spießrutenlaufen – das ist jetzt alles vorbei.

Vorbei? Die Form hat sich verändert, aber vorbei ist es noch nicht. In allen vergangenen Zeiten hat es Dinge gegeben, an die sich die Menschen späterer Zeiten nicht nur mit Entsetzen, sondern auch mit Fassungslosigkeit erinnern: Gefängnisse, Ketzerverbrennungen, Folter, Militärische Lager, Auspeitschungen und Spießrutenlauf. Wir erinnern uns an all das und sind nicht nur entsetzt über die Grausamkeit der Menschen, sondern können uns auch nicht vorstellen, in welchem Geisteszustand sich die Täter befanden. Was ging vor in der Seele eines Mannes, der vom Bett aufstand, sich wusch, sich in Bojarengewänder kleidete, zu Gott betete und hernach ins Gefängnis ging, um die Gelenke von Menschen zu verdrehen oder alte Männer und Frauen mit der Peitsche zu schlagen, und der mit dieser Beschäftigung seine üblichen fünf Stunden verbrachte, wie die heutigen Beamten im Senat, und anschließend in die Familie zurückkehrte, sich geruhsam zum Abendessen hinsetzte und dann die Heilige Schrift las? Was ging vor in der Seele der Regiments- und Kompaniekommandeure jener Zeit? Ich kannte einen, der am Vortag mit seiner schönen Tochter auf einem Ball Mazurka getanzt hatte und früh aufbrach, um am nächsten Morgen zu befehlen, einen tatarischen Deserteur durch die Gasse des Spießrutenlaufens zu treiben, ihn förmlich zu Tode zu jagen, und dann zum Mittagessen zu seiner Familie zurückzukehrte. Schließlich war es unter Peter, Katharina, Alexander und Nikolai nicht anders. Es gab keine Zeit ohne diese schrecklichen Taten, die wir, wenn wir heute von ihnen lesen, nicht verstehen können. Wir können nicht verstehen, wie die Menschen damals die Gräueltaten, die sie begangen haben, nicht sehen konnten – wenn schon nicht die Unmenschlichkeit dieser Gräueltaten, so doch zumindest die Sinnlosigkeit derselben. Das war zu allen Zeiten so. Ist unsere Zeit so besonders, so glücklich, dass es in unserer Zeit keine solchen Gräuel, keine solchen Taten gibt, die unseren Nachkommen ebenso unbegreiflich erscheinen werden? Jetzt ist uns nicht nur klar, wie grausam, sondern auch wie sinnlos es ist, Ketzer zu verbrennen und im Gericht zu foltern, um die Wahrheit herauszufinden. Ein Kind durchschaut die Sinnlosigkeit dieser Dinge, aber die Menschen von damals sahen es nicht. Kluge, gelehrte Menschen argumentierten, dass die Folter eine notwendige Bedingung für das Leben der Menschen sei, dass sie zwar hart sei, man aber nicht ohne sie auskommen könne. Auch bei Stockschlägen und Sklaverei verhielt es sich so. Heute ist die Zeit ist gekommen, in der es uns schwer fällt, uns den Geisteszustand vorzustellen, in dem eine solch grausame Verblendung möglich war.

Wo sind unsere Folter, unsere Sklaverei, unsere Stockschläge? Wir haben den Eindruck, dass es sie nicht gibt, dass sie früher an der Tagesordnung waren, aber jetzt nicht mehr vorkommen. Dies scheint uns so, weil wir das Alte nicht verstehen wollen und die Augen davor verschließen.

Wenn wir ohne falsche Rücksichten auf die Vergangenheit schauen, wird uns auch unsere Gegenwart offenbar. Wenn wir nur aufhörten, unsere Augen blenden zu lassen von fiktiven Leistungen und Wohltaten des Staates, und auf das schauen, was wichtig ist: das Glück und das Unglück im Leben der Menschen, dann würde uns alles klar werden. Wenn wir den Scheiterhaufen, den Folterungen, den Richtblöcken, den Brandmarkungen, den Rekrutierungen richtige Namen geben, werden wir auch den richtigen Namen finden für Gefängnisse, Zuchthäuser, Militärgefüge, Staatsanwälte und die Gendarmen.

Wenn wir nicht mehr sagen: „Warum sich erinnern?“ und die Taten der Vergangenheit nicht länger mit Verweis auf imaginäre Vorteile für verschiedene Fiktionen verdunkeln, werden wir verstehen, was früher geschah, und werden wir verstehen, was heute geschieht.

Wenn wir dann erkennen, dass es absurd und grausam ist, Köpfe auf einer Platte abzuschneiden und die Wahrheit von Menschen erfahren zu wollen, indem man ihre Knochen umdreht, dann sehen wir ebenso klar, wie absurd und grausam es ist, Menschen zu hängen oder sie in Einzelhaft zu stecken, was dem Tod gleichkommt oder schlimmer ist, oder die Wahrheit durch angeheuerte Anwälte und Staatsanwälte ermitteln zu lassen. Wenn es uns einleuchtet, dass es absurd und grausam ist, einen Menschen zu töten, der auf Abwege geraten ist, dann ist es ebenso klar, dass es absurd ist, einen solchen Menschen in ein Gefängnis zu stecken, um ihn völlig zu verderben; wenn es uns einleuchtet, dass es absurd und grausam ist, Männer als Soldaten einzufangen und sie als Vieh zu brandmarken, dann ist es ebenso absurd und grausam, einen beliebigen einundzwanzigjährigen Mann als Soldat einzuberufen. Wenn ansichtig wird, wie lächerlich und grausam die Opritschnina [‚Militärdistrikt‘ unter Iwan IV.] war, wird die Lächerlichkeit und Grausamkeit von Wachmannschaften und Geheimpolizei noch deutlicher werden.

Wenn wir nur aufhörten, die Augen vor der Vergangenheit zu verschließen und zu lamentieren: „Warum sollen wir uns an das Alte erinnern?“, so würde uns klar werden, was die Schrecken unserer Zeit sind, nur eben in neuen Formen. Wir sagen: Es ist alles vorbei. Es gibt keine Folter mehr, keine Buhlerinnen wie Katharina mit ihren mächtigen Liebhabern, keine Sklaverei, kein Totschlagen mit Stockhieben und so weiter. Aber das scheint nur so.

Dreihunderttausend Menschen sind in Gefängnissen und Arrestzellen – in engen, stinkenden Räumen – eingesperrt und sterben einen langsamen physischen und moralischen Tod. Ihre Frauen und Kinder werden ohne Nahrung zurückgelassen, während diese Menschen in einer Lasterhöhle gehalten werden – in Gefängnissen und Arrestzellen; einzig die Wärter, die absoluten Herren dieser Sklaven, sind es, die von dieser grausamen und sinnlosen Haft einen Nutzen ziehen. Zehntausende von Menschen in der Verbannung, die schädlichen Ideen anhängen, verbreiten diese Ideen bis in die letzten Winkel Russlands, werden verrückt und erhängen sich. Tausende darben in Festungen, werden von Gefängnisdirektoren heimlich ermordet oder durch Einzelhaft in den Wahnsinn getrieben. Millionen von Menschen sterben physisch und moralisch in der Sklaverei der Fabrikarbeit. Hunderttausende von Menschen werden jeden Herbst von ihren Familien und jungen Frauen weggerissen, planmäßig auf Mord gedrillt und systematisch korrumpiert. Der Zar von Russland kann nirgendwo hingehen, ohne dabei eine für alle sichtbare Kette von Hunderttausenden von Soldaten um sich herum zu haben, die im Abstand von 50 Schritten die Straße säumen; und obendrein gibt es eine geheime Kette, die ihm überallhin folgt. Ein König treibt Steuern ein und lässt Türme bauen; auf einem der Türme entsteht ein Teich mit blau angemaltem Becken, in dem er – beglückt von Maschinen, die künstliche Stürme erzeugen, – in einem Kahn umherfährt. Derweil sterben Menschen in Fabriken: in Irland, in Frankreich und in Belgien.

Es bedarf keiner besonderen Geisteskraft, um wahrzunehmen, dass unsere Zeit mitnichten ganz verschieden ist von der Vergangenheit und dass unsere Gegenwart ebenso erfüllt ist von Schrecken und Qualen, die für künftige Generationen in ihrer Grausamkeit und Lächerlichkeit ebenso Erstaunen hervorrufen werden.

Die Krankheit ist immer noch dieselbe, und krank sind nicht so sehr diejenigen, die ihren Nutzen aus den Gräueln ziehen, sondern diejenigen, die sie verüben. Sollen doch die Peters, die Katharinas, die Palkins, die bayerischen Könige hundert-, tausendfach davon profitieren. Lasst sie Turm- oder Theaterbauten, Bälle und ausbeuterische Raubzüge zulasten des Volkes veranstalten. Lass Palkin die Leute massakrieren, lass die jetzigen Schurken Menschen zu Hunderten heimlich in den Gefängnissen hängen – wenn die Herrschenden es nur selbst tun würden – anstatt das Volk zu korrumpieren, zu betrügen und – wie jenen alten Soldaten – zu zwingen, mitzumachen bei alldem.

Es ist eine schreckliche Krankheit, eine Krankheit, die aus dem Wahn besteht, es könne für einen Menschen irgendein Gesetz gelten, das über dem Gesetz der Liebe und des Mitleids zum Nächsten steht – weshalb dann geleugnet wird, dass der Mensch niemals auf Verlangen von irgendjemandem das offensichtliche, unzweifelhafte Böse an seinen Brüdern verüben darf, indem er sie tötet, abschlachtet, aufhängt, einsperrt, sie zu den Soldaten zwingt, von ihnen Steuern eintreibt.

Als die Pharisäer vor 1880 Jahren fragten, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu geben oder nicht, hörten sie die Antwort: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Wäre heute nur ein klein wenig Glauben an die Lehre Christi noch lebendig, so würden die Menschen bedenken, was sie Gott schuldig sind, der ihnen sagte: „Du sollst nicht töten“; „Was du nicht willst, dass man dir tuʼ, das fügʼ auch keinem andern zu“, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“; Gott hat ihnen dies nicht nur in Worten gelehrt, sondern jedem Menschen unauslöschlich ins Herz geschrieben: die Liebe zum Nächsten, Erbarmen zwischen den Menschen und Entsetzen davor, den Bruder zu töten und zu quälen.

Wenn die Menschen Gott vertrauten, könnten sie nicht umhin, diese erste Pflicht ihm gegenüber zu erkennen, nämlich das zu erfüllen, was er ihnen ins Herz geschrieben hat: also zu erbarmen, zu lieben – nicht aber zu töten und die Brüder zu quälen. Und dann hätten die Worte: „dem Cäsar, was des Cäsars, und Gott, was Gottes ist“ eine Bedeutung für sie.

Dem Zaren oder wem sonst kannst du hergeben, was immer du willst, nur nicht das, was Gottes ist. Cäsar will mein Geld, nimm es; mein Haus, meine Arbeit, nimm sie. Meine Frau, meine Kinder, mein Leben, nimm es; dies alles ist nicht Gottes. Doch wenn Cäsar mich braucht, um eine Rute auf dem Rücken meines Nachbarn zu heben und zu senken; wenn er mich braucht, um einen Mann zu halten, während dieser geschlagen wird; wenn er mich braucht, um einen Mann zu fesseln oder mit einer Pistole in der Hand unter Todesdrohung in Schach zu halten, während ihm Böses angetan wird; wenn er mich braucht, um die Gefängnistür hinter einem Menschen zu verschließen, ihm seine Kuh oder sein Brot wegzunehmen, oder einen Befehl niederzuschreiben, aufgrund dessen man ihn einsperrt oder ihm etwas wegnimmt, das ihm lieb ist – all das kann ich nicht, denn hier werden Handlungen von mir verlangt – und die sind Gottes. Meine Handlungen sind der Stoff, aus dem mein Leben besteht, das Leben, das ich von Gott empfangen habe und ihm allein geben werde. Und deshalb kann, wer glaubt, dem Kaiser nicht geben, was Gott gehört. Durch die Spießruten laufen, ins Gefängnis gehen, den Tod erleiden, Steuern an Cäsar zahlen – all das kann ich tun; aber einen anderen durch die Spießruten laufen lassen, ihn ins Gefängnis werfen, ihn dem Tod zuführen oder Steuern eintreiben, – all das kann ich nicht für Cäsar tun, denn hier verlangt Cäsar von mir das, was Gottes ist.

Wir sind indessen schon so weit gekommen, dass die Weisung: „Gott, was Gottes ist“ für uns bedeutet, dass man Gott Kerzen für wenige Pfennige, Gebete, Worte und überhaupt alles zukommen lässt, was niemand braucht und Gott schon gar nicht – während wir alles übrige, unser ganzes Leben, die Heiligkeit unserer Seele, die Gott zugehört, dem Kaiser geben!


Textquelle ǀ Hochdeutsche Übertragung für die Tolstoi-Friedensbibliothek, Stand 08.02.2023 (www.tolstoi-friedensbibliothek.de) auf der Grundlage von Übersetzungen mit deepl.com/translator (stilistisch bearbeitet, pb) – Textkontrolle im Vergleich mit vorliegenden Übersetzungen. (Zweite Zeile der Überschrift redaktionell.)

Zugänge zum russischen Originaltext ǀ L. N.: Tolstoi: Nikolaj Palkin (Николай Палкин). In Tolstoj: Gesammelte Werke in 22 Bänden. Moskau: Khudozhestvennaja literatury 1984. Тeil 17, S. 219-227. [Als Internetressource: https://rvb.ru/tolstoy/01text/vol_17_18/vol_17/02edit/0357.htm]; L. N. Tolstoi: Nikolaj Palkin (Николай Палкин). In : Russische Gesamtausgabe, Moskau 1928-1957ff: Polnoe sobranije sočinenij. Jublejno izdanie, Band 26 (Moskau 1936), S. 555-562. [http://tolstoy.ru/creativity/90-volume-colection-of-the-works] [mit Textvarianten und Informationen zur Editionsgeschichte auch zugänglich über https://ru.wikisource.org/wiki].

Übersetzungen ǀ L. N. Tolstoj: Nikolaj Palkin. Auflage: 3. Tausend. Berlin: A. Deubner 1896. [18 Seiten]; L. N. Tolstoi: Nikolaus Stockmann (1891). In: L. N. Tolstoi: Volkserzählungen. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. Mit Buchausstattung von J. W. Ciffarz. Jena: Eugen Diederichs 1907; Lew Tolstoi: Nikolai Palkin, übersetzt von Günter Dalitz. In: Lew Tolstoi: Philosophische und sozialkritische Schriften. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Gerhard Dudek, Band 15). Berlin: Rütten & Loening 1974, S. 728-740 [leider nicht gemeinfrei]. – Eine wissenschaftliche Übersetzung der textkritischen Edition von „Nikolaj Palkin“ – nebst allen Varianten / Beigaben der russischen Gesamtausgabe – für die deutschsprachige Leserschaft liegt bislang noch nicht vor.

Zum Hintergrund des Textes ǀ Anfang April 1886 unternahm L. Tolstoi in Begleitung eine mehrtägige Reise zu Fuß von Moskau nach Jasnaja Poljana, um sich „vom luxuriösen Leben zu erholen“. Bei der Heimkehr bewegten ihn besonders die Erzählungen eines 95-jährigen Soldaten, in dessen Haus die Wanderer eine Nacht verbracht hatten. Von der Arbeit am Text „Nikolai Palkin“, der die Begegnung mit dem Greisen reflektiert, zeugt u. a. ein Brief Tolstois an W. G. Tschertkow vom 29. Juni 1886: „… und am Morgen war ich beschäftigt – hauptsächlich mit einem Artikel über die Staatsmacht, den ich mit der Geschichte eines Soldaten begann, aber dann kam das Mähen, und ich war den ganzen Tag auf dem Feld …“. Ohne Wissen und Einverständnis des Verfassers verbreitete 1887 der Moskauer Student M. A. Novoselov die illegale, hektographierte Ausgabe einer Version von „Nikolai Palkin“ (er wurde inhaftiert und kam erst Anfang 1888 auf Tolstois Fürsprache hin frei). Es folgten ab 1891 diverse – oft sehr fehlerhafte – Nachdrucke bzw. Übersetzungen im Ausland. Versuche, den Text auch in Russland selbst zu veröffentlichen, endeten 1906 mit der Konfiszierung einer Zeitschriftenausgabe und einer Broschüre. Erst nach Tolstois Tod wurde in der sogenannten sowjetischen „Jubiläumsausgabe“ eine textkritische Fassung von „Nikolai Palkin“ dargeboten.

Bildnis zum Beitrag ǀ https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Franz_Kr%C3%BCger_-_Portrait_of_Emperor_Nicholas_I_-_WGA12289.jpg