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Allgemein

Militarismus und Religion

Brief an einen Feldwebel

(ПИСЬМО К ФЕЛЬДФЕБЕЛЮ ǀ Pisʼmo k felʼdfebelju, 1899)

Sie wundern sich darüber, daß man die Soldaten lehrt, es sei – in bestimmten Fällen und im Kriege – erlaubt, Menschen zu töten, indes in dem Buche, das von denselben Lehrern heilig gehalten wird, nichts, das dergleichen erlauben würde, zu lesen ist, und im Gegenteil nicht nur jede Menschentötung, sondern auch jede Beleidigung des Menschen untersagt wird. Auch ist darin das Verbot zu finden, anderen zu tun, was man für sich selbst mißbilligen würde. Sie fragen, ob Lehren, die diesen zuwiderlaufen, nicht eine Schurkerei sind, und wenn sie es sind, zu wessen Gunsten sie begangen werden.

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Der einfältige Iwan und die Soldaten

Auszug aus dem „Märchen von Iwan dem Dummkopf“

Сказка об Иване-дураке ǀ Skaska ob Iwane-durake, 1885

Im Jahr 1885 schrieb Leo N. Tolstoi „Das Märchen von Iwan dem Dummkopf“, eine verdeckte Kritik an Zarenherrschaft, Militarismus und Weltgefüge im Dienste der Reichen. Dieses ‚politische Märchen‘ wider die Symbiose von Münze, Macht und Militär, das – aufgrund eines klugen Vorgehens – 1886 unerwartet die russische Zensur passieren konnte und erst 1892 den Behörden mit Blick auf die populäre Verbreitung missliebig war, erzählt die Geschichte der drei Söhne eines durchaus begüterten Bauern.

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Es ist Zeit, zu begreifen

Ein staatskritischer Text über den „Dschingis Khan mit Telegraphen“

(Pora ponjatʼ, 1909 – Übertragung für die Tolstoi-Friedensbibliothek, 19.02.2023)

„Ein Staat, der auf Kalkül beruht und durch Furcht zusammengehalten wird, ist ein ebenso abscheuliches wie zerbrechliches Gebäude“, sagt Amiel [Henri-Frédéric Amiel, 1821-1881] an irgendeiner Stelle. Dem vermag man gar nicht zu widersprechen, und man kann es mit dem Verstand nachvollziehen; aber neben diesem verstandesmäßigen Zugang kann man mit dem ganzen Wesen ein Gefühl des Ekels und des Entsetzens vor einem solchen Gebilde empfinden, wenn man in ihm lebt, und die ganze Hässlichkeit und Zerbrechlichkeit dieses Gebildes bleibt in keiner Weise verborgen. Die überwiegende Mehrheit der 150 Millionen Menschen in Russland teilt jetzt genau dieses Gefühl.

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„Nikolai Palkin“

Der Zar als Peitschenmann – Nachbetrachtungen zum Gespräch mit einem betagten Soldaten im Jahr 1886

Nikolaus I. Pawlowitsch (1796-1855), ein Nachfahre des Herzogs Karl Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf (1700-1739), gelangte 1825-1855 als Zar zu traurigem „Ruhm“. Von ihm und einem betagten Veteranen erzählt Tolstoi in dieser 1886/87 entstandenen Skizze wider die Staatsmacht.

Übertragung für die Tolstoi-Friedensbibliothek, Stand 08.02.2023

Wir haben die Nacht mit einem fünfundneunzigjährigen Soldaten verbracht. Er diente ehedem unter Alexander I. und Nikolai.
„Was, du willst sterben?“

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„Der Patriotismus ist für die Herrschenden ein Mittel zur Erreichung ihrer Ziele“

Auszug aus Tolstois Schrift „Die Annexion Bosniens und der Herzegowina“

(O prisojedinenii Bosnii I Gerzogowiny k Awstrii, 1908)

[…] Das, was man heute Patriotismus nennt, ist einerseits nur eine gewisse Stimmung, die durch die Schulen, die Religion und eine käufliche Presse beständig im Volke erzeugt und in einer für die Regierung notwendigen Richtung wachgehalten wird, andererseits ist der Patriotismus nichts wie ein durch ungewöhnliche Mittel von den herrschenden Klassen hervorgerufener Zustand der Erregung bei den moralisch und geistig am tiefsten stehenden Schichten der Bevölkerung, der nachher für den Ausdruck des dauernden Willens des ganzen Volkes ausgegeben wird. Der Patriotismus der unterjochten Völker bildet darin keine Ausnahme. Ebensowenig ist er den arbeitenden Massen eigentümlich und wird ihnen nur von den herrschenden Klassen eingeimpft.

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Die Haltung der frühen Christen zum Krieg

Zusammengestellt von Nikolaj N. Gussew,
bearbeitet von Leo N. Tolstoi

(Zuerst postum veröffentlicht 1917 in einer Neuausgabe
von Tolstois Lesezyklus „Krug čtenija, 1904-1908“)

„Der ganze Erdkreis steht in der Raserei eines gegenseitigen Blutvergießens, und Mord, der als Verbrechen gilt, wenn ein einzelner Mensch ihn verübt, wird als Tugend bezeichnet, wenn er in der Masse geschieht.“ – So schrieb der berühmte Cyprian [Bischof von Kathargo] im dritten Jahrhundert über den Krieg. Die gesamte christliche Gemeinschaft der ersten Jahrhunderte, bis hin zum fünften Jahrhundert, hatte dieselbe Einstellung zum Krieg. Die Leitungen der christlichen Gemeinschaft erkannten es klar, dass den Christen jede Art des Tötens verboten ist, also auch das Töten im Krieg.

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Zwei Kriege

[Dve vojny, 1898]

Übersetzt von Ilse Frapan*
(*Zuerst abgedruckt im „Neuen Jahrhundert“)

In der christlichen Welt gehen gegenwärtig zwei Kriege vor sich. Freilich ist der eine schon zu Ende, der andere noch nicht, aber sie bestanden doch eine Weile zu derselben Zeit, und der Gegensatz zwischen ihnen war frappant. Der eine – jetzt schon beendigte – Krieg war der alte ehrgeizige, dumme und grausame, unzeitige, antiquierte, heidnische Krieg, der spanisch-amerikanische, welcher durch die Tötung der einen Gruppe Menschen die Frage lösen wollte, wie und von wem die Anderen regiert werden müssen. Der andere, noch jetzt dauernde Krieg, der nur dann endigen kann, wenn alle Kriege zu Ende sein werden – das ist der neue, selbstverleugnende, auf der Liebe und Vernunft allein gegründete, heilige Krieg, der Krieg gegen den Krieg, welchen der beste, vorgeschrittene Teil der christlichen Menschheit schon lange (wie Victor Hugo das auf einem Kongresse ausdrückte) dem anderen rohen, wilden Teile derselben Menschheit erklärt hat, und welchen ein Häuflein Christenmenschen – die kaukasischen Duchoboren – in der letzten Zeit mit besonderer Kraft und mit Erfolg gegen die mächtige russische Regierung führt.

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Soldatenartikel

(Denkzettel für Soldaten: Soldatskaja pamjatka, 1901)

„Darum fürchtet euch nicht vor ihnen. Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und ist nichts heimlich, das man nicht wissen werde. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht, und was ihr höret in das Ohr, das prediget auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten. Fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben mag in die Hölle.“

(Matthäus-Evangelium 10, 26. 27. 28)

„Petrus aber antwortete und die Apostel und sprachen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

(Apostel-Geschichte 5, 29)

Soldat, du hast schießen, stechen, marschieren gelernt, man hat dich Lesen und Schreiben gelehrt, nach dem Exerzierplatz und zur Truppenschau geführt, vielleicht auch hast du einen Krieg mitgemacht, mit Türken und Chinesen gekämpft und alles ausgeführt, was dir befohlen wurde; es ist dir wohl nie in den Kopf gekommen, dich zu fragen, ob es gut oder böse ist, was du tust.

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Denkzettel für Offiziere

(Oficerskaja pamjatka, 1901)

„Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist. Wehe der Welt der Ärgernis halben! Es muß ja Ärgernis kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!“

Matthäus-Evangelium 18, 6-7

In allen Soldatenstuben hängt, an der Wand angeschlagen, der vom General Dragomirow verfaßte ,,Denkzettel für Soldaten“. Dieser ist ein Sammelsurium pseudo-soldatischer volkstümlicher (jedem Soldaten völlig fremder) dumm-toller Worte, die mit lästerlichen Zitaten aus dem Evangelium untermischt sind. Die evangelischen Aussprüche sind angeführt zur Bekräftigung davon, daß die Soldaten töten müssen, ihre Feinde mit den Zähnen beißen müssen: ,,Ist das Bajonett zerbrochen, schlag mit den Fäusten; versagen die Fäuste, klammere dich mit den Zähnen fest.“ Am Schlusse des ,,Denkzettels“ aber heißt es, Gott ist der General der Soldaten: „Gott ist euer General“.

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